Länderpunkte, Ballast der Republik, Tage wie diese, Krach der Republik, Am Anfang war der Lärm, Bob Geldof, Willkommen in Deutschland
Mit Ostberlin hatte das Reisefieber der Hosen 1983 begonnen, in Ungarn, Polen und der CSSR ging es weiter, über Estland und Jugoslawien bis nach Russland, schließlich nach Latein- und Südamerika, ebenso wie Kuba; 2010 gab es für die Jungs noch mehr „Länderpunkte“ einzufahren: Konzerte in Tadschikistan, Usbekistan, Kasachstan, Jordanien, Türkei und Israel. Neben der großen Freude ist die Band beeindruckt von dem Aufruhr, den ihre Konzerte in diesen teils autoritär geführten Ländern noch hervorruft.
In Tadschikistan muss Campino den örtlichen Polizeichef mit Umarmungen und Küssen beruhigen, um das Konzert nicht zum Abbruch zu bringen, denn genau das hat die Polizei aufgrund des begeistert tanzenden Publikums zunächst im Sinn.
In Polen erscheint das Lied ”Zamrozona Wyborowa“, was so viel heißt wie ”Eisgekühlter Bommerlunder“, und ist Soundtrack der dortigen Tournee.
2011 verbringen die Toten Hosen weitgehend im Studio im Münsterland und im Proberaum in Düsseldorf – und verzweifeln fast. Das geplante Album zum 30-jährigen Bandbestehen soll besonders gut werden und will zunächst doch nicht gelingen. Man holt Verstärkung: Der Rapper Marteria und die Schauspielerin Birgit Minichmayr bringen sich als Ratgeber ein und so wird das Ruder schließlich herumgerissen.
„Ballast der Republik“ erscheint im Mai 2012, enthält „Altes Fieber“ und „Tage wie diese“. Nach inzwischen rund 18 Millionen verkauften Tonträgern wird dieses Lied der größte Hit der Bandgeschichte.
Er läuft auf Volksfesten, Hochzeiten, Beerdigungen und Radiostationen, die die Toten Hosen zuvor noch nie gespielt hatten. Es ist der Soundtrack der Fußballnationalmannschaft für die EM 2012 und wird zwei Jahre später noch im Maracana Stadion laufen, als das Team Weltmeister wird.
Auf der Bonus-CD „Die Geister, die wir riefen“, die dem Album beigelegt ist, covern die Hosen Songs von Vorbildern und Freunden. Von Hannes Wader bis zu Kraftwerk, von Falco bis zu den Ärzten. Im Fernsehen ist im Dezember 2012 die Tote-Hosen-Dokumentation „Nichts als die Wahrheit“ zu sehen, für die der preisgekrönte Dokumentarfilmer Eric Friedler die Band monatelang begleitet hat.
Die Tournee zum Album mit dem Titel „Krach der Republik“ beginnt im April 2012 mit kleinen Magical-Mystery-Konzerten unter anderem in der Urologie des Klinikums Ingolstadt, einer Punk-WG in Gießen und einer Barkasse im Hamburger Hafen. Die Tour endet anderthalb Jahre später, im Oktober 2013, mit einem zweitägigen Finale im Düsseldorfer Stadion vor insgesamt 90.000 Zuschauern. Mehr als eine Million Besucher waren inzwischen zu Gast.
Die größte Rocktour, die jemals in Deutschland stattgefunden hat.
Bereits eine Woche später spielen Die Toten Hosen zusammen mit Musikern der Robert Schumann Hochschule ein Gedenkkonzert anlässlich des 70. Jahrestages der Ausstellung „Entartete Musik“. Mit dieser Ausstellung verhöhnten die Nazis Künstler und Komponisten, die nicht ihrem Weltbild entsprachen. Zur Aufführung kommen betroffene Stücke aus der damaligen Zeit und einige neuere Lieder der Toten Hosen, die sich mit der derzeitigen politischen Situation befassen.
Im Jahr 2014 erscheint das Buch „Am Anfang war der Lärm“, eine Bandbiografie vom SPIEGEL-Reporter Philipp Oehmke, der die Band viele Stunden lang interviewte, sich in die Archive eingrub und ihr über ein Jahr lang ständiger Begleiter war.
”Eine Show der Toten Hosen handelt davon, der Gleichförmigkeit des Lebens mit schierer Wucht entgegenzutreten.”
Angesichts der im Herbst 2014 eskalierenden Ebola-Epidemie in mehreren westafrikanischen Ländern lässt Campino sich von Bob Geldof überreden, eine Art deutsches Band Aid zusammenzutrommeln und den 30 Jahre alten Charity-Klassiker „Do They Know It‘s Christmas“ neu einzuspielen. Unterstützt von Udo Lindenberg, Seeed, Marteria, Thees Uhlmann und vielen anderen gelingt es, den Song in wenigen Tagen fertigzustellen und auf Platz Eins der deutschen Charts zu schießen.
Die Aktion spielt weltweit innerhalb von wenigen Wochen 4 Millionen Euro ein, die unmittelbar zur Bekämpfung der Krankheit in den betroffenen Regionen verwendet werden können.
Eine Konzertreise nach Myanmar rundet das Jahr ab. 2015 beginnt mit einem harten Schlag: Jochen Hülder, Manager seit der ersten Stunde und engster Freund der Toten Hosen, verstirbt im Januar nach schwerer Krankheit. Doch Die Toten Hosen tragen die Fackel weiter: Rock am Ring lädt sie zur Einweihung des neuen Geländes in Mendig ein. Dieses Festival ist mit der Band wie kein anderes verbunden und so ist die Euphorie über den gelungenen Einstand auf allen Seiten groß.
Vorher spielt die Band in der argentinischen Hauptstadt die ausverkaufte „Buenos Aires City Tour“ in ihren dortigen Lieblingsclubs.
Im August spielt die Band zwei ausverkaufte Konzerte im Züricher Letzigrund Stadion und vor 70.000 Fans in Leipzig. Diese Konzerte gehen ebenso in die Geschichte ein, wie der Auftritt auf dem Wiener Heldenplatz vor 150.000 Zuschauern beim „Voices For Refugees“ Festival, das ein politisches Statement gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus ist.
Zum Jahresende erscheint eine Neuversion von „Peter und der Wolf“ mit Campino als Erzähler und auch endlich das Album „Entartete Musik: Willkommen in Deutschland – ein Gedenkkonzert“ mit den Musikern der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf. Es sind Aufnahmen der Konzertreihe aus dem Jahr 2013, die an die von den Nazis verfemte Musik zur Zeit des Dritten Reichs erinnert. Sämtliche Gewinne werden der Musikschule für Stipendien und Projekte gespendet.
Im April 2016 stirbt der ehemalige Schlagzeuger Wolfgang „Wölli“ Rohde nach einer langwierigen Krebserkrankung. Im Herbst des vorigen Jahres hatte er sich den Fans auf der Bühne des großen Hosen-Open Airs in Leipzig noch mal zeigen können. Es wurde sein letzter, großer Auftritt. Die Toten Hosen bestatten ihren Freund im bandeigenen Gemeinschaftsgrab auf dem Düsseldorfer Südfriedhof, wo zuvor schon Uwe Faust und Jochen Hülder ihre letzte Ruhe gefunden haben.
Die meiste Zeit des Jahres verbringen die Hosen im Studio und im Übungsraum, wo Lieder für ein neues Album entstehen. „Laune der Natur“ erscheint schließlich, 35 Jahre nach Bandgründung, am 5. Mai 2017. Darauf enthalten sind „Wannsee“, „Unter den Wolken“ und „Alles passiert“. Die Scheibe ist voller Lebensfreude, vielleicht auch aus Trotz über die Verluste von Jochen und Wölli, dessen Song „Kein Grund zur Traurigkeit“ das Album – mit Wöllis Originalgesang – abschließt.
Mit „Learning English Lesson Two“ liegt der Platte ein weiteres vollwertiges Album bei, die lang erwartete Fortsetzung des mittlerweile 26 Jahre alten Klassikers: Erneut haben die Toten Hosen sich mit alten Vorbildern getroffen, um mit ihnen in London einige ihrer besten Stücke einzuspielen. Mit dabei sind diesmal Punkrock-Hochkaräter wie Jello Biafra (Dead Kennedys), Jake Burns (Stiff Little Fingers), Tony James (Generation X), Steve Diggle (Buzzcocks), Hugh Cornwell (The Stranglers) oder auch Johnny Moped.
Die Albumveröffentlichung wird wieder begleitet von einer Magical Mystery Tour, die den Hosen massiv denkwürdige Abende irgendwo zwischen Abriss und Absturz in den schrägsten Kulissen beschert, diesmal u.a. in einem alten Bunker in Posen, in einem Fanraum des Stadions vom FC St. Pauli und vor einem Fischladen in Kiel. Gemeinsam mit den alten Freunden Gerhard Polt und den Well-Brüdern wird dann im Juli auf der „Im Auge des Trommelfells“-Tour bayrisch-anarchistischer Kleinkunst-Rock’n’Roll auf die Bühnen gebracht, ein riesiger Spaß für alle Beteiligten. Nur wenige Tage später spielen die Hosen ein Überraschungskonzert auf der Düsseldorfer Rheinkirmes. Nicht alle können sich darüber freuen – die Fahrgeschäftbetreiber sind verärgert, weil alle Leute plötzlich zum Uerige-Zelt rennen.
Im November beginnt die ausgedehnte „Laune der Natour“ in den größten, stets ausverkauften Hallen der Republik. Die Band feiert in diesem Winter ein Fest nach dem anderen, zeigt sich im Jahr ihres 35. Jubiläums extrem spielfreudig und kann mit insgesamt 1,4 Millionen Zuschauern die Messlatte der letzten großen Konzertreise problemlos erreichen.
Auch 2018 treten die Toten Hosen das Gaspedal wieder voll durch und erleben eines der turbulentesten Jahre ihrer Bandgeschichte: An Karneval spielt man mit eigenem Wagen auf dem Düsseldorfer Rosenmontagszug, wie bereits 22 Jahre zuvor. Auch dieses Mal gelingt es der Band, bis zum Start des Umzugs die Teilnahme geheim zu halten. Im April sammeln die Jungs wieder einen „Länderpunkt“: Sie reisen zum ersten Mal nach China, um dort in Peking sowie in Hongkong Konzerte zu spielen, beäugt von den chinesischen Behörden, welche die Konzerte und den Enthusiasmus des Publikums aber nicht verhindern können – erst recht nicht den spontanen Auftritt in einem Pekinger Punkschuppen. Zurück in Deutschland lässt es sich die Band nicht nehmen, bei der Bundesligaaufstiegsfeier ihrer Fortuna auf dem Düsseldorfer Rathausplatz ein paar Nummern zu spielen.
Im Sommer starten sie den zweiten Teil ihrer Tournee. Die „Laune der Natour“-Open Air Konzerte beginnen zunächst vielversprechend und voller Zuversicht. Die Tour wird jedoch von einem Schock unterbrochen, als bei Campino nach dem Konzert in der Berliner Waldbühne ein Hörsturz diagnostiziert wird. Eine kurzzeitige Existenzkrise mitsamt anderthalbmonatiger Auftrittspause kann erfolgreich überwunden und die ausgefallenen Konzerte nachgeholt werden. Die Band nutzt die Auszeit ohne Campino sinnvoll und führt die letzten Geschmackstests für ihr eigenes Bier durch – in Kooperation mit der Düsseldorfer Traditionsbrauerei Uerige wird das „Hosen Hell“ geboren. Bis heute genießt es in Düsseldorf Kultstatus und ist von der Bierlandkarte Deutschlands bei Experten nicht mehr wegzudenken.
Im September treten die Toten Hosen gemeinsam mit Kraftklub, Casper, Marteria, Nura, Feine Sahne Fischfilet, K.I.Z. und Trettmann unter dem Motto „Wir sind mehr“ bei einem spontanen, vielbeachteten Open-Air-Konzert in der Chemnitzer Innenstadt auf, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Vor über 65.000 Zuschauern stellt Campino klar: „Es gibt keinen Unterschied an solchen Abenden. Ob du jetzt HipHop machst oder Rockmusik. Eines eint uns alle: Gemeinsam gegen rechtsaußen!“ Anlass sind vorangegangene fremdenfeindliche Ausschreitungen in Chemnitz, bei denen Rechtsradikale einen in der Stadt verübten Mord aufgrund des Migrationshintergrunds der Täter rassistisch instrumentalisieren.
Das große „Laune der Natour-Finale“ wird schließlich im Oktober an zwei Abenden im ausverkauften Stadion in Düsseldorf vor insgesamt 90.000 Zuschauern zelebriert. Und so lautstark klingt das Jahr auch aus: Im November schauen die Hosen zunächst im legendären Berliner SO36 vorbei, um dessen 40jähriges Jubiläum mit einem Konzert zu feiern und reisen danach, Ehrensache, für zwei Shows nach Argentinien. Buenos Aires begeht das „Hosen Fest“ mit 10.000 Zuschauern.
Das Jahr ist eine Achterbahnfahrt und deshalb stellt es sich als absoluter Glücksgriff heraus, dass die Toten Hosen während der ganzen Zeit von den Regisseuren Cordula Kablitz-Post und Paul Dugdale begleitet werden, die aus dem teilweise spektakulären Filmmaterial den hochgelobten Dokumentarfilm „Weil du nur einmal lebst – Die Toten Hosen auf Tour“ machen, der im März 2019 in die Kinos kommt. Zum Filmstart erscheint außerdem das Livealbum „Das Laune der Natour-Finale“ mit dem Konzert aus Düsseldorf sowie dem Bonusalbum „Auf der Suche nach der Schnapsinsel - Live im SO36“, das lauter Raritäten beinhaltet. Der ewige Spagat der Band zwischen Stadion und Untergrundclub wird so mal wieder auf den Punkt gebracht.
Im Juli 2019 erfüllt sich die Band einen alten Traum. 1982 zunächst als Big Band konzipiert, mussten die fünf Toten Hosen schnell einsehen, dass außer ihnen selbst damals niemand mitmachen wollte. Der Wunsch, sich mit möglichst vielen Musikern auf eine Bühne zu quetschen, ließ die Band jedoch nie los und kann nun mit lange und liebevoll vorbereiteten Akustikkonzerten in der Düsseldorfer Tonhalle unter dem Motto „Mit Pauken und Trompeten“ endlich umgesetzt werden. Als eine konsequent zu Ende gedachte Erweiterung des 2005er „Unplugged“-Konzepts erscheinen die mit klassischen Instrumenten neu interpretierten Hosen-Stücke im Oktober als Konzertmitschnitt auf dem Album „Alles ohne Strom“. Mit dabei Klassiker wie „1000 gute Gründe“, die überraschende Rammstein-Coverversion „Ohne dich“, aber auch neue Stücke wie „Feiern im Regen“ und „Kamikaze“.
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Corona, Hope Street, Campino auf Lesereise, Merseybeat, 40 Jahre Die Tote Hosen