Wer sich tiefgehender mit den Toten Hosen beschäftigen möchte, stößt früher oder später auf dth-dta.de – das „Die Toten Hosen Tourdatenarchiv“. Eine von Fans betriebene, detailverliebte und verblüffend umfassende Sammlung sämtlicher Hosen-Konzerte inklusive aller dazu auffindbaren Infos. Man munkelt, dass die Band selbst immer wieder auf das Tourdatenarchiv zurückgreift, wenn sie auf die Schnelle eine Information aus ihrer Anfangszeit benötigt. Wer sich erinnern kann, war nun mal nicht dabei. Kopf des Archivs ist der langjährige Hosen-Ultra Toby Henze. Er war es, der die Webseite am 29.09.2004 ins Leben rief. Wir hatten es also vor Kurzem mit einem 20-jährigen Jubiläum zu tun! Grund genug für ein ausführliches Gespräch mit Toby. Dabei geht es nicht nur um das Archiv, sondern auch darum, was es ganz generell heißt, ein „Alles-Fahrer“ zu sein: So bezeichnen sich die Hosen-Fans, die versuchen, kein Konzert auszulassen. Herzlich willkommen in einer faszinierenden Parallelwelt, die untrennbar mit der Geschichte der Toten Hosen verbunden ist und bislang viel zu wenig beleuchtet wurde.

Poträt von Toby

Hi Toby, stell dich doch bitte erst mal kurz vor.

Gerne. Ich bin 1987er Jahrgang und wohne aktuell mit meiner Familie in Köln. Aufgewachsen bin ich nicht weit von der Domstadt in Kerpen. Kindergarten, Grundschule, Abitur – ein relativ normaler Lebensweg. Danach habe ich in Maastricht meinen Bachelor in European Studies und meinen Master in Public Policy and Human Development gemacht. Mein Beruf hat mit meinem Studium eigentlich nichts zu tun und ist schwierig zu definieren. Im weitesten Sinne bin ich E-Commerce- und Markenmanager für einen Hersteller von Gaming-Möbeln. Ich sitze viel vor dem Computer, aber labere auch relativ viel (lacht).

Heute soll es allerdings um dein Dasein als Tote Hosen-Fan gehen. Wie bist du zu den Hosen gekommen?

Ich war immer sehr eng mit der Familie und habe viele ältere Cousins und Cousinen. Als kleiner Junge fand ich natürlich alles cool, was sie so gehört oder gemacht haben. Meine Cousine zeigte mir 1993 oder 1994 die ersten Punk-Sachen. Das waren die Ärzte, Offspring, Green Day – und eben die Hosen. Richtig Fahrt aufgenommen hat es dann 1996 an meinem neunten Geburtstag, als das Live-Album „Im Auftrag des Herrn“ erschien. Meine Tante hat es mir feierlich überreicht, mit den Worten: „Du magst doch ‚10 kleine Jägermeister‘ so gern“ (lacht). Das Album lief danach bei mir rauf und runter. Bis heute kann ich alle Ansagen mitsprechen und höre es immer noch gerne. Mit der Energie dieser Platte haben die Hosen mich bekommen. 2000 bei der „Unsterblich“-Tour wäre ich dann eigentlich auf mein erstes Hosen-Konzert gegangen, aber die Tour wurde leider vorzeitig abgesagt, nachdem sich Campino bei Rock am Ring das Kreuzband gerissen hatte. Erst 2002 konnte ich dann die Hosen live erleben: „Auswärtsspiel“-Tour, 11. Mai 2002, Kölnarena. Mein Vater begleitete mich, wir erklommen die Sitzplätze im viel zu hohen Oberrang. Dieses Konzert hat mich einfach umgehauen. Einige Details haben sich bis heute und wahrscheinlich für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt. Als Vorband waren die Beatsteaks dabei. Sänger Arnim ist mit dem Surfbrett auf der Menge geritten, was ich unglaublich fand. Und danach haben die Hosen ein unfassbares Brett abgerissen! Campino hing kopfüber vom Hallendach herunter, mit einem brennenden Bengalo in der Hand. Un-fass-bar! Parallel zur Show spielte Bayer Leverkusen noch um den DFB-Pokal und versemmelte auch die dritte Chance auf einen Titel in der Saison. Ich weiß noch, dass Campino spontan den Text von „Steh auf, wenn du am Boden bist“ änderte und auf Leverkusens Unvermögen ummünzte. Vom Oberrang konnte ich den Pogo sehen und die Wellen der Menschenmengen verfolgen, dazu diese unglaubliche Energie von der Bühne und die fiesen Sprüche in Richtung Kölner Publikum … Wahnsinn, was da abging! Ab diesem Abend war für mich klar: Das ist genau das, was ich möchte. Live-Konzerte! Es war nicht nur mein erstes Hosen-Konzert, sondern generell mein allererstes Konzert – und ich war völlig überwältigt von dieser Erfahrung. Ende des Jahres war ich dann noch mit meinem Onkel beim Konzert in Oberhausen. Danach ist es mit den Konzerten ein wenig eskaliert und ich bin irgendwie in diese irre Welt der Hosenfans und Konzertgänger abgerutscht (lacht).

Was bedeutet das genau?

Ich habe mich richtig in den Hosen-Kosmos eingegraben und wollte einfach alles wissen. Ich arbeitete Booklets, Bücher und Zeitungsartikel durch – und 2004 natürlich auch schon das Internet. Als typisches Internetkiddie war ich im offiziellen Forum der Toten Hosen aktiv. Leider wurde es ohne große Erklärung irgendwann zugemacht. Daraufhin entstand ein neues Fanforum, über das ich viele Leute kennenlernte, mit denen ich mich bald auf Konzerten getroffen oder zusammen losgefahren bin. Ganz wichtig war Dominik aus Hamm, der schon ein bisschen älter war und das Thema Konzerte intensiver lebte. Mit ihm besuchte ich 2004 mein drittes Hosen-Konzert in Oberhausen, während der „Friss oder Stirb“-Tour. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits vor, mehr Konzerte einer Tour zu sehen und kaufte mir Karten für alle Shows in NRW. Leider fielen diese Konzerte aber größtenteils wieder aus, weil Campino während der Tour Stimmprobleme bekam. So war ich 2004 eben nur in Oberhausen. Dort lernte ich über besagten Dominik allerdings Ingo, Anna und Peter kennen. Mir war direkt klar, dass das Hosen-Fans von der extremeren Sorte waren. Die drei sind in dem Jahr auch die Balkan-Tour mitgefahren, als die Hosen in Serbien, Kroatien und Bulgarien spielten. Ich wusste schon aus dem Forum, dass es Leute gab, die ein bisschen krasser drauf waren und nicht nur zu normalen Konzerten fuhren, sondern sich zum Beispiel 2003 auch auf den Weg nach Buenos Aires gemacht hatten. Zum zweiten Teil der „Friss oder Stirb“-Tour 2005 haben mich dann Ingo, Anna und Peter ein bisschen unter ihre Fittiche genommen. Nach dem Motto: „Wenn der Junge Bock hat, fahren wir mal ein paar Konzerte mit ihm zusammen!“ So ging es los, und es hat riesigen Spaß gemacht. Ich war in Münster, Dortmund, Köln, Meppen … Mein neuntes oder zehntes Hosen-Konzert war dann schon in Polen, beim Woodstock Festival. Ich bin mit dem Schülerticket im Bummelzug nach Berlin getingelt, wo die anderen mich mit Annas Polo eingesammelt haben, und dann sind wir rüber nach Polen gefahren. Ich sah die Hosen auf dem damals größten Umsonst-und-draußen-Festival vor 250.000 Fans. Und dann hing ich irgendwie in dieser Alles-Fahrer-Sache drin (lacht).

Du bist ganz schön schnell zum harten Kern der Hosen-Fanszene vorgedrungen.

Ich bin einfach zum richtigen Zeitpunkt an die falschen Leute geraten (lacht). Mein Glück war, dass ich Ingo, Anna und Peter bereits bei meinem dritten Konzert kennengelernt habe. Die kannten wiederum Siggi, Melli und Pinki, Finn, Meik, Peter, Micha, Maria und Thomas – und wie sie alle heißen. Es war damals ein kleiner, harter Kern von Leuten, die extrem viel getourt sind. Teilweise hatten sie schon hunderte Konzerte gesehen und alle kannten sich untereinander. Das waren vielleicht 30 oder 40 Leute, und sie waren immer da, bei jedem Hosen-Konzert. Man traf sich immer vorne links. Dort standen die Alles-Fahrer, Fahnenschwenker, Ultras … wie auch immer man sie nennen will. Ich habe sofort verstanden, wie wichtig der Zusammenhalt und das gemeinsame Unterwegs-sein für alle war. Und was die zu erzählen hatten, irre! Melli und Pinki waren zum Beispiel 2001 nach Kuba geflogen, als die Hosen in Havanna gespielt hatten. Solche Geschichten haben mich sofort fasziniert und in ihren Bann gezogen. Ich wollte das auch erleben!

Was hat es mit „vorne links“ auf sich?

Irgendwie treffen wir uns bei den Konzerten immer vorne links – ohne wirkliche Absprache. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, aber dort trifft man auf Generationen von Hardcore-Fans. Siggi aus Cloppenburg beispielsweise hat sein erstes Konzert 1985 gesehen. Bei Peter aus Buxtehude war es 1986. Die beiden sieht man heute noch auf Konzerten! Das Schöne ist: Es kommen immer neue Leute dazu, jüngere Fans, die von der Faszination des Tourens angezogen werden. Vorne-links ist dabei nur eine Gruppe von vielen. Es gibt diverse Reisegruppen oder Freundeskreise, die zusammen losfahren, um gemeinsam Hosen-Shows zu sehen. Zum Beispiel ein paar Deutsche, die sich in Argentinien kennengelernt haben und sich seitdem „Boludos“ nennen, was so viel heißt wie „Die Verrückten“. Wenn man über Jahre auf gefühlt jedem Konzert rumturnt, erkennt man irgendwann die Leute, die das auch tun. Zu dieser Vorne-links-Geschichte, dieser Freundschaft der Alles-Fahrer oder Viel-Fahrer, muss man noch sagen, dass viel davon auch abseits der Konzerte stattfindet. Es ist am Ende dann doch sehr familiär. Man bildet Fahrgemeinschaften, teilt sich die Spritkosten, fährt zusammen Zug, nächtigt in denselben Hotels, verbringt die Off-Tage gemeinsam, feiert zusammen. Da entstehen Freundschaften, die außerhalb der Hosen-Konzerte weitergeführt werden

Sind die Toten Hosen vielleicht auch ein bisschen Mittel zum Zweck? Andere Freundeskreise gehen Minigolf spielen oder angeln und ihr geht halt zu den Hosen?

In jedem Fall! Und wir waren während einer Tour auch schon zusammen Minigolf spielen (lacht). Generell eint uns alle die Liebe zur Musik der Hosen. Wir sind alle heiß drauf, die Jungs live zu sehen. Über diese gemeinsame Leidenschaft kennen wir uns ja. Ehrlicherweise ist es aber auch so: Wenn die Hosen, wie zum Beispiel im Winter 2008, um die 25 Hallenkonzerte spielen und man fährt bei 20 Konzerten mit, dann kriegt man irgendwann denselben Lagerkoller wie die Band oder Crew. Man weiß teilweise gar nicht mehr, in welcher Halle man gerade auf das Konzert wartet. Und spätestens, wenn man beim 17. Konzert am 23. Dezember irgendwo in Erfurt mit Tourgrippe und Schüttelfrost steht, dann fragt man sich schon: Warum mache ich das alles? Die Antwort lautet dann: Weil ich mit meinen besten Freunden unterwegs bin! Das ist einfach das Schönste der Welt, das ist Magie. Wir sind zusammen auf Tour – obwohl wir keine Band sind (lacht). Man findet aber auch davon abgesehen immer Gründe, warum man jetzt unbedingt bei diesem einen Konzert dabei sein muss. Wir sammeln zum Beispiel auch Länder- oder Städtepunkte. Oder man hat irgendeine Halle noch nicht gesehen. Oder jemand hat Geburtstag. Oder man hofft, dass die Hosen am 23.12. Raritäten vom Weihnachtsalbum spielen. Irgendwas ist immer – und bisher hat es sich auch immer gelohnt.

Mit Freunden unterwegs sein, neue Leute kennenlernen, Abenteuer erleben: Im Grunde macht ihr nichts anderes als die Hosen selbst in all den Jahren.

Ich sehe da auch extrem viele Parallelen. Wenn man an die Anfangstage der Hosen denkt: Hauptsache unterwegs sein und rauskommen, Hauptsache Chaos, Hauptsache Kaltgetränke … Bei uns war es nicht anders. Wir hatten keine Kohle, sind aber trotzdem irgendwie losgefahren. Hauptsache was erleben, was machen. Scheißegal, ob man mit acht Leuten in irgendeinem Billighotelzimmer pennt. Manchmal sind wir spontan ins Auto gestiegen, weil irgendwer noch 20 Euro in der Hosentasche gefunden hat.

Wie viele Hosen-Konzerte hast du bis jetzt gesehen?

Stand jetzt, Dezember 2024, sind es 235 Konzerte. Aber volle Kapelle. Lesungen oder Akustik-Dinger von Campino und Kuddel nicht mitgerechnet.

Wow. Wenn ich dich nach den Highlights frage, was fällt dir da als erstes ein?

Es gibt unzählige Wow-Momente. Das SO36-Konzert 2009 war atemberaubend genial, oder natürlich das 30-jährige Bandjubiläum im Schlachthof Bremen 2012. Das erste Mal ein Konzert in Argentinien erleben und spüren, wie die Fans die Gitarrensoli mitsingen, Campinos Kletteraktion mit Gipsbein bei Rock am Ring 2006 – der helle Wahnsinn! Aber auch „normale“ Konzerte bleiben in Erinnerung – Kassel 2022 zum Beispiel. Da hat alles gepasst: eine tolle Setlist, super Spiellaune der Jungs und ein motiviertes Publikum, alles unter der Woche. Das hatte ich so definitiv nicht erwartet. Mehr als die einzelnen Konzerte ist mir allerdings etwas Grundsätzliches sehr wichtig. Diese ganze Hosen-Geschichte ist für mich essenziell freundschafts- und familienbasiert. Ich wüsste nicht, wie mein Leben heute wäre, wenn es diese Band nicht gäbe. Die meisten meiner Freunde habe ich über die Konzerte kennengelernt. Unsere Hochzeitsparty war eine feierwütige Ansammlung von Konzertverrückten. Meinen Trauzeugen Tobi, genannt Klein-Tobi und einer meiner allerbesten Freunde, habe ich über die Toten Hosen kennengelernt. Auch meine Eltern: Als es bei mir richtig losging mit den Hosen, waren sie anfangs ein bisschen skeptisch – Was tut der Junge da bloß? Wieso fährt der jetzt nach Polen für diese Band? –, haben mich aber machen lassen, solange meine Noten okay waren. Ich habe mich in der Schule also doppelt und dreifach angestrengt, damit ich zu den Hosen fahren konnte. Seit 2009 sind meine Eltern jetzt bei jeder Tour mindestens einmal dabei. Das ist richtig schön zu sehen und es bedeutet mir sehr viel, diesen Rückhalt bis heute zu erfahren. Als mein Vater mich zu meinem ersten Hosen-Konzert begleitete, war er noch skeptisch ob dessen, was er da erleben würde – heute trägt er mit Stolz sein „Steh auf, wenn du am Boden bist“-Shirt (lacht). Er hat auch von Anfang das Tourdatenarchiv unterstützt und locker 15 Jahre lang die Serverkosten bezahlt. Mama dagegen hat eigentlich alle Fahnen genäht, die über die Jahre gestaltet und rund um die Welt geschwenkt wurden. Ein Riesendankeschön!

Extrem wichtig war für mich auch die 2015er Tour durch Buenos Aires. Hier ist meine Schwester mitgekommen. Nicht, weil sie jetzt der mega Hosen-Fan wäre, sondern weil sie es einfach spannend fand, mit uns nach Argentinien zu fliegen. Wir waren eine Dreiergruppe: meine Schwester, Klein-Tobi und ich. Dass wir dieses Erlebnis miteinander geteilt haben, hat meine Schwester und mich extrem zusammengeschweißt. Ohne, dass wir jemals zerstritten gewesen wären – aber wir wurden einfach richtig eng dadurch. Sie ist seitdem auch bei jeder Tour bei ein oder zwei Konzerten dabei. Wenn die Toten Hosen auf Tour sind, kommen also meine Familie und meine Freunde zusammen. Das ist einfach großartig! Alle meine Hosen-Kumpels kennen meine Familie und haben bei meinen Eltern entweder bereits übernachtet oder mit ihnen ein Bierchen genossen (lacht). Ich bin sehr dankbar, dass aus einer kleinen Leidenschaft im Kinderzimmer so etwas Großes geworden ist, das mein Leben ziemlich geprägt und bis hier hin auch einfach sehr schön gemacht hat.

Ich entnehme deinen Ausführungen, dass du auch mit dem Fahnenschwenken auf Tote Hosen-Konzerten zu tun hast?

Ja, auch da bin ich irgendwie reingerutscht (lacht). Da gibt es keinen wilden Plan oder übermäßige Organisation. Ich schätze den DIY-Gedanken: Wenn du Bock hast, dann mach halt was. Darum habe ich eigentlich für jede Tour seit 2008 eine neue Fahne gemalt und zu den Konzerten mitgebracht. Dank meiner 1,96 Meter stehe ich allerdings meistens unten, während jemand die Fahne auf meinen Schultern schwenkt (lacht). Ich finde es gut, die Jungs auf diese Weise zu unterstützen und den Abend etwas bunter zu gestalten. Fahnen, Banner, Konfetti, Wunderkerzen, Bengalos: Richtig und sicher eingesetzt, kann das sehr gut rüberkommen und den Abend noch mehr anschieben. Außerdem konnten wir auf diesem Weg Oxfam und ProAsyl noch mehr Sichtbarkeit geben.

Inwiefern?

Wir haben die Teams von beiden Organisationen auf der Tour 2008 kennengelernt. Gute Leute, die für die richtige Sache brennen. Sowas wollen wir immer unterstützten. Denn unsere politische Grundeinstellung deckt sich mit der der Hosen und der Organisationen, die sie supporten: Gegen Nazis, für Menschenrechte! Ist doch klar! Also haben wir relativ schnell dafür gesorgt, dass auch Oxfam- und ProAsyl-Fahnen bei den Konzerten zu sehen sind. Diese Fahnen gehören bis heute zu unserem Inventar und werden jederzeit rausgeholt – auch wenn die Organisationen selbst nicht immer mit Infoständen am Start sind.

In welchen Ländern hast du die Hosen schon überall live gesehen?

Klar, Deutschland, Österreich, Schweiz. Dann noch Luxemburg, Belgien, Niederlande, Polen, Argentinien. Und Blackpool in England musste ich 2023 natürlich mitnehmen. Dazu direkt der nächste emotionale Schwank: Meine Frau Annika und ich kennen uns schon seit der 5. Klasse – sie kennt mich also auch, seitdem ich zu den Hosen fahre. Und sie unterstützt das, sie kommt immer wieder mal mit auf Hosen-Tour. Auch außerhalb der Jungs fahren wir gerne zusammen auf Konzerte, zu Frank Turner beispielsweise. Sie kann also nachvollziehen, was so spannend an dem Hobby ist und warum es mir so wichtig ist. Das hat sich auch im Februar 2023 gezeigt. Obwohl Annika im achten Monat schwanger war, hat sie mir den Rücken freigehalten, damit ich das Benefizkonzert für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien besuchen konnte, das die Hosen in Düsseldorf veranstalteten.. Dort zu singen und zusammen zu sein, war extrem wichtig für mich. Nach der Geburt unseres Sohnes, musste ich auch nicht groß fragen, ob ich zu den Shows nach Amsterdam, Brüssel oder Blackpool fahren könnte. Ihr war direkt klar, dass ich mir gerne die Länderpunkte holen würde. Das Argument, dass die Hosen zuletzt 1996 in England gespielt haben, wurde sofort verstanden (lacht).

Nun sprechen wir ja anlässlich des kürzlich erfolgten 20-jährigen Jubiläums des legendären „Die Toten Hosen Tourarchiv“, für das du maßgeblich verantwortlich zeichnest. Wie ging es damit los?

Wie gesagt: Anfang/Mitte der 2000er war das Internet mein zweites Zuhause. Ich hockte in irgendwelchen Foren rum, nicht nur bei den Hosen, sondern auch bei den Wohlstandskindern oder bei den Ärzten. Es gab damals schon die Ärzte-Fanseite „Kill-Them-All“ und es gab auch schon das Ärzte-Tourdatenarchiv. Das fand ich wirklich irre, dass man da einfach in die Geschichte eintauchen und nachgucken konnte, was bei den Ärzten früher so passiert ist. Ich habe ein extremes Faible für die Historie. Mich interessiert, was in der Vergangenheit war, denn nur mit der Geschichte kann man die Gegenwart erklären. Mich interessieren historische Entwicklungen. Beispielsweise kann man bei den Hosen die 1998er Warped Tour nicht ohne das 1000. Konzert erklären. Damals fiel mir als wissbegierigem Hosen-Fan schnell auf, dass man nur relativ wenig zur Bandgeschichte finden konnte. Neben den CD-Booklets und einer noch recht dürftigen Internetpräsenz, gab es eigentlich nur diese offizielle Tote Hosen-Biografie von Betram Job, in der man ein paar Sachen nachlesen konnte. Das hat mir insgesamt nicht gereicht (lacht). So kam es, dass ich aus dem Kinderzimmer heraus, gemeinsam mit einer Forenuserin aus Lingen namens Lara, die Idee hatte, ein Tote Hosen-Archiv aufzusetzen. Im Sommer 2004 fing ich an, Tourdaten und Informationen zu sammeln und mir zu erarbeiten, wann die Hosen wo unter welchem Tournamen gespielt hatten. Ich bin richtig in dieser Recherche aufgegangen und pflegte alles auf einer Website ein, am Anfang noch sehr unprofessionell. Aber halt auch ein großer Spaß. Neben Lara war auch der vorhin erwähnte Dominik an Bord, dessen Netzwerk an Alles-Fahrern sehr hilfreich war. Wir waren ein loses Konglomerat von Fans mit einigen Unterstützern, die uns dabei halfen, an Informationen zu kommen. Es ging sehr schnell, dass das Archiv von den Forenusern gefüttert wurde. Plötzlich meldeten sich Leute: „Ich habe seit 1990 jedes Hosen-Konzert in Bremen und Hamburg gesehen, ich kann dir gerne Fotos von den Tickets schicken!“. So hat uns etwa Claudia aus Bremen ihr privates Archiv zugänglich gemacht. Ich bin dann mit vielen anderen Fans über das Internet, und später auch persönlich, in den Austausch gekommen. Da habe ich die wildesten Sachen gehört und erlebt. Es haben sich sogar Argentinier gemeldet, die z. B. das Ticket vom ersten Hosen-Konzert in Argentinien hatten. Nachdem ich Finn kennengelernt hatte, kramte er irgendwann alte Fax-Kopien aus, die er 1994 von Tourleiter Kiki Ressler bekommen hatte. Kiki hatte damals Bescheid gegeben, dass die Hosen bald in Skandinavien spielen würden, inklusive einer Liste mit sämtlichen Terminen. Das waren Daten, die man nirgendwo im Internet gefunden hat. Aber die Hosen-Ultras Finn und Meik waren eben schon in den Neunzigern so hardcore unterwegs, dass Kiki ihnen persönlich Bescheid gesagt hat. Knippi aus Düsseldorf kam plötzlich mit einem Backstagepass von Istanbul 1994 um die Ecke. Und ich nur so: „Was haben die denn in Istanbul gemacht?!“ Und dann fing Knippi halt zu erzählen an. Ich bekam extrem viele gute Geschichten zu hören und hatte einen unglaublichen Spaß daran.

Fallen dir noch mehr Geschichten ein?

1996 war die schottische Band Baby Chaos bei ein paar Konzerten der „Ewig währt am längsten“-Tour dabei. Ich habe die Band gegoogelt und bin auf deren uralte Webseite gestoßen, wo noch ein Kontaktformular zu finden war. Also schrieb ich ihnen einfach mal, nach dem Motto: „Habe gelesen, dass ihr in den Neunzigern mit den Toten Hosen auf Tour wart, stimmt das, und wenn ja, wisst ihr noch, welche Konzerte das waren?“ Auf den Tourplakaten standen zwar oft die Support Acts, aber nicht immer stand auch dabei, in welcher Stadt sie gespielt haben. Tja, und dann hat mir plötzlich der ehemalige Manager von Baby Chaos zurückgeschrieben: „Cool, dass du fragst, wir waren bei folgenden Konzerten dabei, hier übrigens noch das Fax von damals und der Tourpass“ (lacht). Irre.

Wann nahm das Archiv die Form an, die wir heute kennen?

Ab 2006/2007 wurde alles ein bisschen strukturierter. Das hatte damit zu tun, dass Tobi beim Archiv eingestiegen ist. Das ist mein eben erwähnter Trauzeuge, mit dem ich ab 2005 viel unterwegs war. Er war schon damals designermäßig unterwegs und hat auch eine Ausbildung zum Grafiker gemacht. Er kannte sich viel besser mit den technischen Möglichkeiten aus, die das Internet zu bieten hatte. Und so haben wir uns zusammengesetzt und versucht, das Archiv neu zu strukturieren und optisch zu verbessern. Dank Tobi basiert die Seite nun nicht mehr auf meinen schlechten Paint-Grafiken (lacht). Wir hatten damals genug Zeit, denn die Hosen haben 2006 das erste Mal in ihrer Bandgeschichte kein einziges Konzert gespielt. Auch 2007 wurde die Bandpause nur für einen 20-Minuten-Gig beim G7-Gipfel in Rostock unterbrochen. In Fan-Kreisen war schon fast Weltuntergangsstimmung, man hatte teilweise Angst, dass die Band sich auflöst. Es gab ein extremes Lechzen nach Infos. Deshalb war es eine große Sache, als die Bandpause 2008 endete – mit zwei Gigs in Berlin und Hamburg. Das waren Warm-up-Shows für Rock am Ring und Rock im Park. Pünktlich zu diesen Gigs, zu diesem gefühlten Comeback, auf das wir alle gewartet hatten, gingen wir mit einem kompletten Re-Launch des Tourdatenarchivs online, mit neuem Design und neuer Menüführung. Außerdem haben wir den allerersten Liveticker umgesetzt, aus der Markthalle in Hamburg.

Wie funktionierte das?

Ich war auf dem Konzert, hatte mein Handy dabei und habe die Setlist per SMS an Tobi geschickt. Er saß zu Hause vorm Computer und hat die Setlist live in eine Webseite reingehauen und hat diese immer wieder aktualisiert. Ziemlich umständlich, aber damals war es etwas Neues. Und es wurde super angenommen! Die Leute im Forum konnten live darüber diskutieren, was gerade auf dem Konzert passierte. Nach der Bandpause war das Interesse enorm! Sogar Patrick Orth, der JKP-Geschäftsführer, sprach mich darauf an und war sehr interessiert, mehr über diese neue Form von Interaktion und Informationsweitergabe zu erfahren. Wir haben damit dann bei den folgenden Konzerten weitergemacht und so den Ticker etabliert.

Wäre Twitter nicht einfacher gewesen als eine Webseite, die man ständig aktualisieren musste?

Schon. Aber damals gab es noch kein Twitter in Deutschland. Und Facebook war noch kein Thema. Eigentlich war der Ticker völlig abstrus unpraktisch. Erst im Sommer 2009 haben wir dann mit Twitter angefangen, als es hierzulande verfügbar gemacht wurde. Den Ticker auf Twitter haben wir damals für die Konzerte in Berlin und Losheim gestartet, die das Ende der „Machmalauter“-Tour darstellen sollten. Witzigerweise konnten wir dann direkt ganz große News twittern, denn Campino rief am Ende des Berlin-Konzerts von der Waldbühne aus: „Wir sehen uns in 5 Tagen im SO36!“. Das hatten wir nicht eingeplant (lacht).

Eine Übersprungshandlung, oder? Das war bestimmt nicht vorgesehen, dieses kleine Überraschungskonzert im SO36 vor 20.000 Leuten in der Waldbühne anzukündigen.

Ich weiß es bis heute nicht (lacht). Jedenfalls mischte sich die Euphorie über die Ankündigung mit Planungschaos, um einen möglichen Besuch in Kreuzberg überhaupt möglich machen zu können. Für mich entwickelte sich ein ziemlich wilder Ritt mit wenig Schlaf. Am Tag nach der Waldbühnen-Show sind wir mit fünf Leuten in einem kleinen VW Golf erst mal weiter nach Losheim getuckelt. Das sind mehr 800 Kilometer, und wir waren noch völlig fertig von der Tour und der Feierei. Nach dem Konzert in Losheim musste ich nachts noch zurück ins niederländische Maastricht, wo ich damals studiert habe. Am nächsten Morgen stand nämlich irgendein Referat an. Das SO36-Konzert war dann zwei Tage später, also musste ich gucken, dass ich wieder nach Berlin komme. Wieder 800 Kilometer abreißen. Ich bin dann irgendwie über gute Kumpels in einem Auto in Venlo gelandet. Mit Vollgas ging es nach Berlin, Konzert geguckt, zurück ins Auto und die komplette Nacht durchgefahren. Ich bin morgens um 10 Uhr in Maastricht angekommen und saß um 11 schon wieder in der Uni. Völlig bescheuert. Aber bei mir an der Uni herrschte Anwesenheitspflicht, ich hätte den Kurs sonst nicht bestanden. Ich bin meinem Freund Eddie heute noch dankbar, dass er die Nummer durchgezogen hat, denn das Konzert war wirklich unvorstellbar gut.

Noch mal zum Live-Ticker. Macht ihr das bei jedem Konzert?

Bei fast jedem. Am Anfang war es manchmal noch schwierig, weil man nicht in jedem Kaff, in jeder Halle Empfang hatte. Da kam es dann zu Verzögerungen. Oder man musste die Setlist jemandem per SMS schicken, der sie dann bei Twitter reinstellte. In Argentinien 2015 waren wir mit anderen Problemen konfrontiert: Dort wird leider ohne Ende geklaut. Man muss doppelt und dreifach auf sein Handy aufpassen. Also haben wir die Setlisten auf Zetteln mitgeschrieben, haben die völlig versifften Zettel mit ins Hotel genommen und von da aus abgetippt und ins Netz gestellt. Generell ist es uns wichtig, anderen Fans durch den Ticker nicht den Spaß am eigenen Konzerterlebnis zu nehmen. Bei besonderen Konzerten, wie z. B. der „Willkommen in Deutschland“-Reihe 2013, tickern wir nicht mit. Diese intimen und auch teilweise sehr emotionalen Konzerte wollen wir ohne Handy genießen und auch anderen nicht vorher die Überraschungsmomente verraten.

Das Tourdatenarchiv umfasst natürlich auch Konzerte aus Zeiten, in denen noch niemand von euch geboren war. Wie verifiziert ihr in solchen Fällen, dass alles korrekt ist? Ihr legt ja großen Wert auf Genauigkeit.

Stimmt, wir haben den Anspruch, dass alles korrekt ist. Das nehmen wir ernst und deshalb versuchen wir, alle Konzertdaten irgendwie zu verifizieren. Hier spielt Johannes, der seit 2014 dabei ist, eine wichtige Rolle. Er ist rund zehn Jahre jünger als der Rest der Bande und hatte, als wir ihn kennenlernten, noch mal richtig Bock, das Archiv nach vorne zu bringen. Er hatte das gleiche Feuer wie wir früher. Johannes hat sich durch sämtliche Zeitungsarchive gegraben. Und ich rede nicht nur von deutschen Zeitungsarchiven, sondern auch von niederländischen oder skandinavischen. Bei der Recherche geht es natürlich darum, unbekannte Konzerte ausfindig zu machen. Aber auch Informationen zu Vorbands oder der Hallengröße lassen wir ins Archiv einfließen. Eine wichtige Quelle sind auch alte Punk-Fanzines. In den Anfangsjahren habe ich da alles, was ich finden konnte, durchgeblättert – in der Hoffnung, irgendwelche Details in Konzertberichten zu finden. Besonders in den Achtzigern gab es viele spontane oder unangekündigte Konzerte. Magical Mystery Konzerte. Konzerte, bei denen es keine Eintrittskarten gab, sondern einfach einen Stempel auf die Stirn und fertig. Wenn niemand über diese Konzerte geschrieben hat oder niemand einem davon erzählt, dann sind diese Daten einfach verloren. Allerdings: Nur weil es irgendwo mal geschrieben stand, heißt das nicht automatisch, dass es auch stimmt. Es gibt genug gedruckte Zeitungsankündigungen, Tickets oder Plakate von Konzerten, die dann doch noch kurzfristig ausgefallen sind – aus welchen Gründen auch immer. Wir versuchen immer, alles gegen zu prüfen und doppelt zu checken. Teilweise ist das nicht möglich. Manchmal ist die einzige Quelle eine Setlist, die original von der Band kommt. Bei ZK hatten wir Zugriff auf handgeschriebene Setlisten vom jungen Campino – aus Fabsis Archiv. Und sogar hier bleibt die Restmöglichkeit, dass letztlich bei dem Konzert ein Lied ausgetauscht oder weggelassen wurde.

Gibt es nicht oft auch Mitschnitte, bei denen man nachhören kann, was gespielt wurde?

Doch, klar. In Fan-Kreisen kursieren hunderte Mitschnitte. Aber halt nicht zu jedem Konzert. Generell habe ich viele Stunden damit verbracht, Mitschnitte zu hören und die Setlisten mitzuschreiben. Das war vor allem am Anfang, als ich noch nicht das tiefe Tote Hosen-Wissen hatte wie heute, eine richtige Herausforderung. Manche Lieder kannte ich einfach nicht. Und bei irgendeiner Coverversion von, keine Ahnung, Cock Sparrer in einem Mitschnitt von 1992 in lausiger Qualität, da konnte ich dann oft nicht identifizieren, was die da überhaupt singen. Teilweise kursieren auch Mitschnitte, die offensichtlich falsch datiert wurden. Es gibt bis heute Setlisten von Mitschnitten, die wir nicht veröffentlichen, weil wir genau wissen, dass das mutmaßliche Konzertdatum nicht stimmen kann. Genauso haben wir aber auch eine Liste mit Konzerten, von denen wir wissen, dass sie stattgefunden haben – aber wir kennen nicht das korrekte Datum. Deshalb sind die Konzerte nicht im Archiv gelistet. Wenn, dann soll es auch bitte korrekt sein! Ich verstehe mich da schon als pflichtbewussten Archivar (lacht).

War es eigentlich von Anfang an der Fall, dass im Archiv so viele zusätzliche Informationen zu den einzelnen Konzerten dargestellt wurden?

Ja. Unser Anspruch war immer, die Konzerte so gut und genau wie möglich darzustellen. Wo war das Konzert? Wer war die Vorband? Wie viele Leute waren da? Welche Songs wurden gespielt? Wie sah das Ticket aus? Wie sah das Tourposter aus? Wie sah das Tourshirt aus? Wie sah vielleicht der Backstage Pass aus? Und so weiter. Alle Hosen-Touren hatten immer eigene Designs und eigene Themenwelten. Was da an Tickets und Begleitmaterial rausgehauen wurde, fantastisch! Nimm zum Beispiel die Weihnachtstour von 1998: Tickets, Tourpässe, das Coverartwork zum Album – das sind kleine Meisterwerke! Oder schau dir die „Unter falscher Flagge“-Tour an: die erste Tour, bei der es ein mehr oder weniger durchgängiges Design bei Tickets, Pässen, Plakaten und Shirts gab – großartig! Auch die 1993er Geheimtour als Katastrophenkommando hatte tolle Ticketdesigns und das passende Shirt dazu. Ich habe mich immer gefreut wie ein Schneekönig, wenn Leute plötzlich irgendwelche Sachen von geheimen Konzerten für uns ausgegraben haben. 1996 gab es zwei Tage vor dem Bizarre Festival ein Konzert in Köln, nur für Freunde und Familie – mit einem völlig irren Ticket. So etwas zu finden, ist, als würde man einen Schatz heben. Manchmal komme ich mir wie ein kleiner Indiana Jones in den Untiefen der Hosen-Geschichte vor.

Hochinteressant für Fans ist beim Tourdatenarchiv sicherlich die Möglichkeit, dass man auf einen Song klicken kann, um nachzuschauen, bei welchen Konzerten er bereits gespielt wurde. 2022 haben die Toten Hosen z. B. in Leipzig überraschend „Willi muss ins Heim“ ausgegraben. Wer im Archiv stöbert, kann schnell herausfinden, dass der Song das letzte Mal davor 1984 gespielt wurde.

Das ist das Verdienst meines Freundes Hen. Den habe ich 2007 kennengelernt, 2009 sind wir zusammen auf Hosen-Tour gefahren und 2010 ist er beim Tourdatenarchiv eingestiegen. So lief es eigentlich mit allen, die irgendwann zum Archiv gestoßen sind: Man ist zusammen unterwegs, erlebt Konzerte, und irgendwann wächst es ganz natürlich zusammen, wenn man merkt, dass jemand sich in einem bestimmten Bereich auskennt. Dann heißt es: Willst du nicht bei uns mitmachen? Der Bereich von Hen ist ganz klar das Programmieren. Er ist unser Datenbankbärchen. Bis 2010 war es für uns extrem kompliziert, Veränderungen vorzunehmen oder die Seite zu strukturieren. Jedes einzelne Konzert war als individuelle HTML-Seite angelegt. Die Hölle! Ich tauschte mich mit Hen über diverse Ideen aus, wie man das Archiv anders und besser machen könnte. Dass man eben z. B. auf einen Song klickt und angezeigt kriegt, bei welchen Konzerten er schon alles gespielt wurde. Das große Vorbild war hier U2tour.de, die eine richtig heftige Datenbank im Hintergrund laufen haben. An der Seite arbeiten aber auch ein Dutzend Leute. Hen schaute sich verschiedene Beispiele an, hörte sich meine Ideen an und setzte sich ans Programmieren. So entstand unsere Datenbankstruktur. Passend zum 30-jährigen Bandjubiläum haben wir dann die Version 3.0 des Tourdatenarchivs veröffentlicht und können uns somit seit dem 10.04.2012 an den Querverweisen erfreuen. Die Songtexte und die Diskografie haben wir erst 2017 eingespielt. Das war für uns eine logische und sinnvolle Ergänzung. Solche Entwicklungen besprechen wir immer gemeinsam, denn wir wollen Mehrwerte schaffen – vor allem für uns (lacht). Am Ende des Tages sind wir immer noch Fans, die einfach Spaß an der Seite haben.

Wie viele Leute seid ihr überhaupt?

Der harte Kern des Archivs besteht jetzt seit zehn Jahren aus vier Personen. Neben mir sind es noch Tobi, Hen und Johannes, die nach und nach eingestiegen sind und die ich auch alle schon genannt habe. Jeder bringt seine eigene Kompetenz mit an Bord und sorgt dafür, dass das Archiv läuft und weiter wächst. Bekannt sind wir übrigens als „Die Raketen“. Der Name entstand, als wir erklären sollten, was wir mit diesem Archiv eigentlich machen. Ich glaube, es war Hen, der einfach meinte: „Raketentechnik!“. Eine leichte Überhöhung unserer Kompetenz, aber der Name hat sich durchgesetzt und gilt bis heute für uns vier. Manchmal veranstalten wir Raketenwochenenden, dann hocken wir zusammen, arbeiten am Archiv und haben einfach Spaß.

Warum macht ihr das Tourdatenarchiv? Was bezweckt ihr, was treibt euch an?

Am Anfang wollte ich einfach nur meinen eigenen Wissensdurst stillen (lacht). Dazu kam der DIY-Gedanke. Wenn man selbst unmusikalisch ist, baut man halt eine Webseite. Für mich ist eine Internetseite nur eine andere Form des selbstkopierten Fanzines von früher. Bis heute macht es uns Spaß, das Archiv stetig weiterzuentwickeln und zu verbessern. Wir stolpern ja immer wieder über neue Hinweise – manchmal, ohne danach zu suchen. Zum Beispiel hat Thees Uhlmann in seinem Buch geschrieben, dass es keinerlei Aufzeichnungen über sein allererstes Tote Hosen-Konzert gäbe. Das hat mich richtig angestachelt. Also habe ich mich quer durch Deutschland telefoniert. Wer könnte zu diesem Konzert etwas wissen? 24 Stunden später hatten wir das Datum am Start und sogar das passende Ticket parat. Also Thees: Hier ist dein erstes Konzert! (lacht). Außerdem habe ich schnell festgestellt, wie bereichernd es ist, durch dieses Projekt mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen. Es gibt ja ein extremes Interesse von Fans am Archiv. Einerseits von neuen Fans, die sich noch nicht so gut auskennen mit den Hosen, andererseits aber auch von Leuten, die seit 30 Jahren auf Hosen-Konzerten unterwegs sind und mit dem Archiv in Erinnerungen schwelgen. Die Toten Hosen sind eine der größten Bands Deutschlands und für ganz viele Menschen hängen an Hosen-Konzerten wichtige Erinnerungen. Häufig bekommen wir das Feedback, dass Fans über unsere Seite ihr erstes Konzert wiederfinden konnten und sich dank der Setlist wieder besser an Details erinnern können. Eine Frau schrieb uns mal, dass sie das Konzert gefunden hat, bei dem sie ihren Mann kennengelernt hat. Solche Sachen sind einfach schön und treiben uns an. Somit denke ich, dass wir mit dem Archiv einen kleinen Mehrwert für die Hosen-Community schaffen konnten.

Wie vollständig ist das Archiv? Wie viele Konzerte habt ihr erfasst und was glaubst du, wie viele euch fehlen?

Ich würde mal sagen, es sind gute 80 bis 90 Prozent an Konzerten, die wir abdecken. Es gibt noch 20-30 Konzerte, von deren Existenz wir wissen, die wir aber noch nicht verifizieren konnten. Dann fehlen sicherlich noch einige Shows aus den Achtzigern oder Sachen, die komplett im Geheimen stattgefunden haben. Aktuell gelistet sind 1436 Konzerte.

Moment mal, war das 1000. Konzert nicht angeblich schon 1997?

Das ist Quatsch. Die Jungs haben damals selbst gesagt, sie hätten jeden noch so kleinen Auftritt vor zwei Leuten im Proberaum mitgezählt, TV-Auftritte oder Radiointerviews dazu addiert, alle Augen zugemacht, ein bisschen gewürfelt und am Ende wären sie auf die Zahl 1000 gekommen. Das war eher augenzwinkernd zu verstehen, um dieses große Konzert im Rheinstadion noch größer zu machen, und wahrscheinlich auch, um den Stadionrock zu rechtfertigen (lacht). Leider kam es beim Gig zu dem schrecklichen Unglück mit dem Tod von Rieke Lax. Dadurch hat sich der Begriff „1000. Konzert“ eingebrannt, ohne dass heute noch jemand nach der Backstory fragt, wie es überhaupt zu dem Namen gekommen ist. Ich erlebe immer wieder, dass Leute überrascht sind, wenn sie merken, dass das 1000. Konzert gar nicht das 1000. Konzert gewesen sein kann. Selbst wenn wir im Archiv 200 Konzerte aus den Achtzigern unterschlagen hätten, wären es 1997 noch lange nicht 1000 gewesen. Dazu muss man sagen, dass die Hosen selber keinen Überblick mehr haben (lacht). Über die Jahre kam es gelegentlich vor, dass wir uns mal mit Breiti oder Kuddel bei einer Aftershowparty unterhalten haben. Und die haben dann interessiert nachgefragt: Wie viele Konzerte haben wir denn bis heute eigentlich gespielt? Es gab Zeiten, da kamen Anfragen aus Düsseldorf, ob wir mit Infos aushelfen könnten – beispielsweise, wenn man für ein Facebook-Posting wissen wollte, wie oft die Hosen schon in Stadt XY gespielt haben. Mittlerweile haben die Mitarbeiter bei JKP aber verstanden, wie man das Archiv bedient und suchen sich diese Informationen selbst raus (lacht).

Kommt es oft vor, dass ihr auf ein neues Konzert stoßt, das noch nicht im Archiv erfasst ist?

Es kann immer wieder mal vorkommen, dass z. B. Johannes aus dem Nichts in unsere Raketen-Gruppe schreibt: „Leute! Ich habe gerade drei Stunden in einem Rabbit Hole verbracht und ein Konzert gefunden!“. Und dann recherchiert er weiter, findet irgendwelche Querverweise und hat auf einmal zwei weitere Konzerte erarbeitet. Allerdings haben wir das Internet und die Zeitungsarchive schon ziemlich gut abgegrast. Natürlich wird immer mal wieder etwas Neues ins Netz gestellt, aber das ist mittlerweile die Seltenheit. Die Hilfe von außen wird immer wichtiger. Wenn das Archiv weiter wachsen soll, sind wir darauf angewiesen, dass Leute ihre privaten Schatzkisten aufmachen und mit uns teilen. Die Geschichten und Erinnerungen der Fans sind ganz häufig die Grundlage unserer Arbeit. Mein großer Traum wäre aber natürlich, irgendwann mal Zugang zum Hosen-Archiv zu haben. Da dürfte noch einiges schlummern – das sieht man ja, wenn anlässlich irgendwelcher Jubiläen immer wieder mal etwas ausgekramt und auf Social Media geteilt wird. Tourpässe, Tourrider, Verträge und so weiter.

Auf ein anderes Archiv hattet ihr offenbar schon Zugriff – auf das von Fabsi, der zusammen mit Campino und Kuddel bei ZK gespielt hat. Vor einigen Jahren habt ihr das Tote Hosen-Tourdatenarchiv um die ZK-Daten erweitert. Wie kam es dazu?

Fabsi habe ich schon relativ früh in meinem Leben kennengelernt. Um 2005 habe ich hobbymäßig Konzertfotos gemacht und irgendwann fotografierte ich beim Punk im Pott die Mimmi’s, Fabsis großartige Band. Danach rief plötzlich ein Claus Fabian bei meinen Eltern in Kerpen an, wo ich noch wohnte, und fragte, ob denn der Tobias zu Hause wäre. Fabsi hatte meine Bilder im Internet gesehen und wollte sie in irgendeinem Punker-Fanzine abdrucken. Er hatte wohl einfach mein Impressum gelesen und im Telefonbuch nachgeschaut, da ist Fabsi ja Old School. Später, 2010, kam es zur legendären Tour der Hosen durch Polen. Für mich eine der besten Auswärtsfahrten überhaupt. Es gab einen Bus voller Fans, die alle fünf Konzerte mitgefahren sind. Und in dem Bus war auch Fabsi als Fan mit dabei. Auf dieser Reise habe ich ihn richtig kennengelernt, und daraus ist eine Freundschaft entstanden. Als ich zwischenzeitlich in Bremen gewohnt habe, war er quasi mein Nachbar und wir haben uns häufig genug bei Jacky-Cola über früher unterhalten. Außerdem richtet Fabsi seit über 20 Jahren die Rock ’n’ Roll Butterfahrt auf Helgoland aus, bei der die gesamte Archiv-Crew immer am Start ist. Durch diesen langen Kontakt musste zwangsläufig früher oder später der Gedanke aufkommen, dass man das, was Fabsi einem die ganze Zeit erzählt, mal irgendwie ordnen sollte. Der Typ hat ja Bombengeschichten auf Lager, das ist kompletter Wahnsinn. Fabsi ist ein wandelndes Geschichtsbuch auf Steroiden. Uns ist einfach klar geworden, dass man das alles konservieren und archivieren muss, sonst ist es irgendwann weg. Also haben Tobi und ich Fabsi für ein Wochenende in Hessen besucht, wo er mittlerweile wohnt, und sind mit ihm sein Archiv durchgegangen. Der hat alles da: nicht nur handgeschriebene Setlisten von Campino, sondern z. B. auch alte Konzerttickets, Konzertposter, die Rechnung von seinem ersten Schlagzeug, Livemitschnitte. Ein Berg von Kram, unzählige Kisten. Wir haben alles penibel aufgearbeitet und in einer Chronologie erfasst. So konnten wir die alte ZK-Konzertliste, die damals in der Liveplatte abgedruckt war und auch schon auf Fabsis Dokumentation beruhte, an einigen Stellen korrigieren und erweitern. Und was Fabsi zu erzählen hatte! Er hat einfach zu jedem Konzert irgendeine Geschichte parat! Wir haben versucht, alles in die Konzertinfos bei uns im Archiv zu packen. Wo es ging, haben wir die Sachen auch gegengecheckt. Fabsi hat häufig auch mal den alten ZK-Bassisten Isi angerufen oder eben Campino ans Telefon geholt: „Wie war das noch mal damals, erinnerst du dich noch?“ Man hätte das alles auch gut für eine offizielle Bandbiografie nutzen können. Irgendwann fiel es uns nämlich wie Schuppen von den Augen, dass es noch gar keine richtige aufgearbeitete Geschichte von ZK als Band gibt. Sie werden immer nur als Vorgängerband der Hosen erwähnt. Vielleicht ist das ja unser nächstes großes Projekt: Das Archiv als Bandbiograf mit Buchpublikation (lacht).

Du bist berufstätig, du hast eine Familie. Wie kriegst du das mit den Toten Hosen unter einen Hut?

Konzerte, die Hosen, gemeinsam unterwegs sein: Das ist meine Welt, mein Hobby Nummer Eins. Ich habe das nie bewusst entschieden, es ist einfach so gekommen. Noch heute kribbelt es bei mir, wenn die Jungs eine neue Tour ankündigen. Daran hat sich auch über 20 Jahre nach dem ersten Konzert nichts geändert. Der erste Gedanke ist immer noch: Wie fahre ich diese Tour? Wo kann ich hin? Mittlerweile bin ich aber alt genug, dass ich sagen kann, es geht nicht mehr alles. Meistens zumindest. Zeit ist einfach zum entscheidenden Faktor geworden. Früher war das Geld knapp, aber wir hatten immer die Zeit, loszufahren. Vielleicht war es damals etwas einfacher – nichtsdestotrotz bin ich froh, heute nicht mehr bei -19 Grad im Auto vor der Halle in Friedrichshafen pennen zu müssen, wenn die Hosen im Dezember unterwegs sind (lacht). Aber auch die Band ist älter geworden und fährt heute anders auf Tour als früher. Es werden keine 25 Konzerte in vier Wochen mehr durchgeprügelt. Das kommt mir zugute. Sobald die Termine draußen sind, werden sie in der Familie besprochen und abgestimmt. Genauso wichtig ist es, zu wissen: Wo und wann treffe ich meine Leute? Wir sind alle älter geworden, haben zum Teil Familie und unsere privaten Verpflichtungen. Daher versuche ich schon zu schauen, dass ich mir die Perlen rauspicke. Im besten Fall stehe ich mit allen meinen Freunden in den schönsten Konzertlocations der Welt und wir singen die Lieder mit, die wir alle schon seit so langer Zeit lieben.

Wie lange machst du dieses Tourleben noch mit?

Da muss ich jetzt pathetisch werden und die Jungs zitieren: Bis zum bitteren Ende. Solange diese Band auf Bühnen steht, werde ich da sein. Darum drücke ich mir, all den Fans, aber vor allem den Hosen die Daumen, dass alle gesund bleiben und weiterhin Spaß an Livekonzerten haben.

Vielen Dank für das Gespräch!