"Vom freut sich immer, dass ich ihn einmal umgebracht habe"
Der Regisseur Johannes Grebert ist ein wichtiger Freund unseres Hauses. Er zeichnet für einige unserer schönsten Musikvideos der letzten Jahre verantwortlich: „Altes Fieber“, „Wannsee“, „Alles passiert“ oder „Scheiß Wessis“. Darin inszenierte er uns auf eine Art und Weise als Schauspieler, wie es zuvor vielleicht noch niemand geschafft hatte. Johannes strotzt vor Kreativität und Talent, war lange an verschiedenen renommierten Theatern tätig und blickt auf einige spannende Filmprojekte zurück. In unserem Interview erzählt er aus seinem bewegten Leben.
Als ich fünf war, zeigte mir mein älterer Bruder Claus seltsame Spuren im frisch gefallenen Schnee in unserem Garten. Ich folgte den Spuren und mein Bruder animierte mich, zu spekulieren, von welchem Tier diese wohl stammen könnten. Von einem Hasen auf der Flucht? Einem Eichhörnchen auf der Suche nach den letzten Wallnüssen in diesem rauen Winter? Vielleicht sogar von einem gefährlich hungrigen Fuchs?! Ich war aufgeregt. Am Ende der Spur stand ein Stock am Zaun gelehnt und mein Bruder lachte mich aus. Er selbst hatte mit diesem Stock die Spuren in den Schnee gestochen. Er hatte mich reingelegt. Ich weiß noch, wie enttäuscht er war, dass ich mich über seine Inszenierung nicht ärgerte. Im Gegenteil – ich war begeistert. Ich war fasziniert davon, wie viele mögliche Geschichten mein Bruder für mich in das vergängliche, kalte Weiss geschrieben hatte.
Du bist in Eltville am Rhein geboren, das im Rheingau liegt. Wie bist du aufgewachsen?
Ich komme aus einer ziemlich großen, ländlichen Arbeiterfamilie und habe fünf ältere Geschwister. Aufgewachsen bin ich direkt neben der Fabrik. Wir waren keine intellektuelle Familie. Außer mir haben noch zwei meiner Schwestern Abitur gemacht, aber wir waren die erste Generation mit Abitur. Und dann war ich der Einzige aus meiner Familie, der plötzlich etwas mit Kunst und Kultur machen wollte. Meine zwei Brüder sind Handwerker, zwei meiner Schwestern sind Erzieherinnen und die andere ist Übersetzerin. Es war für meine Familie sehr fremd, dass ich beschloss, Theater zu machen.
Rheingau ist ein Weinanbaugebiet.
Wir hatten auch eigene Weinberge. In unserer Familie kriegte traditionell ein Neugeborenes erst mal einen Finger mit einem Tropfen Wein – vor der Muttermilch. So wurde ich mit Wein in die Welt begrüßt (lacht). Mein Vater war ursprünglich Kellermeister. Das sind diejenigen, die im Keller mit dem Wein arbeiten, den Geschmack der Weine bestimmen und die Gärung stoppen. Er hatte dann aber eine Krankheit an den Nebenhöhlen und konnte keinen Schwefel mehr vertragen, was in einem Weinkeller unumgänglich ist. Dann war er einfacher Arbeiter in der Fabrik und hat sich dort im Staub totgearbeitet. Er ist mit 49 an Lungenkrebs gestorben.
Es gibt diese Geschichte, dass dein Bruder in eurer Kindheit mysteriöse Spuren in den Schnee gemacht hat, um dich zu veralbern oder dir Angst zu machen …
Stimmt. Er hat sich richtig geärgert, dass ich das toll fand. Er wollte seinen kleinen Bruder reinlegen. Aber ich war begeistert, weil mir total viele Geschichten einfielen, was es mit diesen Spuren im Schnee auf sich haben könnte. Ich glaube, wenn ich für irgendetwas immer einen Sinn hatte, dann für Geschichten. Andere hätten da bestimmt so reagiert, wie mein Bruder sich das erhoffte, sich geärgert, aber ich fing an, Geschichten zu spinnen. Ich habe als Kind auch immer gerne alleine meine ausgedachten Geschichten gespielt, oder meine Geschwister dazu gebracht, mit mir Pfarrer zu spielen. Das bedeutete dann, dass ich der Pfarrer war und Predigten hielt, Hostien verteilte und so weiter. Ich bin sehr katholisch aufgewachsen, ich habe die Messen geliebt. Nicht weil ich so religiös war, ich bin mit 20 aus der Kirche ausgetreten, weil ich nicht an Gott glaube. Aber die Musik, die Reden, die Kostüme, der Hall in der Kirche, das Weihrauch, das fand ich toll. Einen Sinn für das Theatralische hatte ich immer. Und ich habe auch wahnsinnig gerne Geschichten gelesen oder gehört. Meine Mutter war eine tolle Märchenerzählerin, sie hat uns Grimms Märchen erzählt. Dazu muss man sagen, dass meine Eltern recht alt waren. Als meine Mutter mich bekam, war sie schon 43. Sie ist 1923 geboren und mein Vater 1928. Sie waren beide von altem Schrot und Korn, haben Geschichten erzählt, kannten viele Sprichwörter. Auch wenn ich in diesem einfachen Arbeitermilieu aufgewachsen bin, wurde doch viel gelesen. Es gab Bücher, eben Grimms Märchen und ähnlichen Kram. Das habe ich immer geliebt und gerne auch nachgespielt. Ich finde es heute noch spannend, worin überall Geschichten liegen, in welchen Gegenständen, in welchen Gesichtsausdrücken. Hinter den kleinsten Momenten sind Geschichten zu vermuten. Und auch wenn ich jetzt drehe, ist es immer noch ein Ziel von mir, dass ich mich frage, mit welcher Einstellung, mit welchem Moment ich etwas erzähle. Muss ich es auserzählen oder vielleicht gerade nicht? Damit Spuren bleiben. Momente der Projektionsmöglichkeiten. Deshalb mag ich diese frühe Erinnerung mit meinem Bruder und den Schneespuren so sehr.
Du hast etwas gemeinsam mit Campino und Breiti: Ihr habt alle euren Zivildienst in einer Psychiatrie gemacht.
Okay, das wusste ich nicht.
War das eine prägende Zeit für dich?
Extrem prägend. Ich komme aus einer behüteten Familie, vielleicht arm, aber nicht trostlos. Ich bin ja zum Gymnasium gegangen. Ich war ein guter Schüler, kein Stress. Und dann kam ich auf einmal in eine völlig andere Situation. Ich habe meinen Zivi nicht in irgendeiner Psychiatrie gemacht, sondern in der Schule einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Patienten waren bis zu 17, fast 18 Jahre alt und ich war 19. Sie waren also teilweise nur ein oder zwei Jahre jünger als ich, aber kamen aus unglaublich harten Verhältnissen. Mädels, die sich mit 13 prostituierten, Geschlagene, Misshandelte. Schlimmste Leben. Dadurch hatte ich plötzlich eine ziemliche Relativierung. Wenn ich nach dem Gymnasium direkt studiert hätte, wäre ich immer in einem gewissen Umkreis geblieben. Der Zivildienst in der Psychiatrie hat mir wirklich gutgetan. Das war eine erschreckende Erweiterung meines Horizonts. Abgründe haben sich dort aufgetan. Es gab auch eine geschlossene Abteilung, da waren Vatermörder, oder Leute, die in der Schule gemordet hatten. Traurig extrem. In die Psychiatrie kommst du, wenn du selbst in die Heime nicht mehr passt. Endstation. Für mich war das alles schon heftig. In der ersten Zeit hatte ich auch Alpträume. Ich war 20 Monate dort.
Wurde es routinierter mit der Zeit? Haben die Alpträume irgendwann aufgehört?
Ja. Beides. Am Anfang war es überwältigend erschreckend, aber mit der Zeit hatte ich auch schöne Momente. In der Psychiatrie sind die Leute ja weniger wie in einem regulären Krankenhaus für vielleicht zwei oder drei Wochen, sondern viel länger. Eine Jugendliche war 17 Monate dort, sie war eine Woche vor mir gekommen. Sie kam aus unglaublich kaputten Verhältnissen, ihre Mutter hat zuhause in die Schränke geschissen, sie wurde von ihr eigesperrt. Fast immer kamen die Jugendlichen aus sehr kaputten Elternhäusern. Das heißt nicht immer asozial, auch extrem religiös oder brutal autoritär. Eigentlich waren die Eltern das wirkliche Problem, das auf die Kinder übertragen wurde. Dieses Mädel wurde dann nach eineinhalb Jahren entlassen, ist in eine normale Schule gegangen und hat eine Lehre als Köchin angefangen. Ich hatte sie immer betreut, begleitet und die letzten Monate saßen wir oft zusammen im Garten der Psychiatrie, haben geraucht und geredet. Ganz normal. Das war wirklich schön. Sie hatte eine tolle Entwicklung machen können und ich hatte auch ein bisschen mitgeholfen. Es sind aber natürlich auch viele schräge Sachen passiert. Mein zweiter Tag war enorm. Es gab einen Ausflug zu einem Abenteuerspielplatz, ich war ganz neu, unsicher. Da lernte ich eben dieses Mädchen kennen, die zwar erst 16 war, aber schon ziemlich erwachsen aussah. Ich dachte, sie sei eine Pflegerin. Ich ging also zu lässig ihr: „Hallo, ich bin der Johannes, ich bin der neue Zivildienstleistende.“ Und sie antwortete: „Fick dich, hau ab, du Arschloch! Fick dich, fick dich!“ (lacht). OK, sie war also keine Pflegerin. Am selben Tag haben wir auch gegrillt, das war meine Aufgabe. Das Feuer war noch nicht mal richtig an und schon stand ein schizophrener Junge neben mir und sagte in einer seltsam krächzigen Stimme, „Ich will zwei Würste!“. Ich antwortete, dass es für jeden nur eine Wurst gebe, doch er blieb dann eine Stunde neben mir stehen und wiederholte krächzend unentwegt: „Ich will zwei Würste!“ (lacht). Eine Woche später lief ein anderes Mädchen, das immer einen Lederhelm trug, weil sie autoaggressiv ihren Kopf immer wieder an die Wand schlug, auf dem langen Gang der Psychiatrie mit ungeheurer Energie auf mich zu. Sie schrie mich an. In einer tierischen Stimme. Ich drückte mich vor Schreck an die Wand, sie lief an mir vorbei. Und dann kam ihr Lehrer und sagte, dass sie sich nur gefreut habe (lacht). So etwas musste man erst mal lernen. Manches war zum Lachen, anderes war furchtbar. Mir haben diese Erfahrungen sehr geholfen. Ich hatte in der Schule eine schöne Stelle, habe Hausaufgaben betreut. Aber ich habe mit den Jungs und Mädels auch Musik gemacht, gespielt und viel Unsinn gemacht. Ich mache ja in meinem Leben immer gerne viel Unsinn, das war dann schon toll. Mich hat es weiter in meinem Interesse für Theater und das Erzählen von Geschichten bestärkt. Ich interessiere mich für die menschliche Psyche nicht wie ein Psychiater, der heilen will, sondern weil ich es faszinierend finde, wie sich etwas zusammenbaut. Das will ich verstehen und erzählen. Mich interessiert, wie ich Abgründe darstellen kann.
War nach dem Zivildienst direkt klar, dass du Theaterwissenschaft studieren wirst?
Nee, ich wollte Schauspieler werden (lacht). Ich habe Aufnahmeprüfungen an acht oder neun staatlichen Schulen gemacht und bin nicht angenommen worden. Interessanterweise wurde mir zweimal gesagt, „Ihre Konzepte sind gut, aber spielen sie lieber nicht!“. Einmal sagte man mir ganz klar, ich solle Regisseur werden. Und dann habe ich eben Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen studiert, was so eine Art Eliteuni war. Da studieren im Jahr 20 Leute, mit Aufnahmeprüfung. Ich glaube, in Berlin studieren pro Semester 350 Leute Theaterwissenschaft, da wird man so durchgenudelt mit Numerus clausus. In Gießen studierten nur Leute, die das auch wirklich wollten und die die Aufnahmeprüfung bestanden hatten. Dort wurde auch eher Performancetheater und schrägere Sachen unterrichtet, was ich spannend fand, weil ich das klassische Staatstheater nicht so mag.
Was hast du in deinem Studium konkret gelernt?
Zum einen Theorie. Ich kenne mich zum Beispiel wirklich mit griechischem Theater aus. Aber auch Performancetheater. Zum anderen hatte ich viele Nebenfächer. Theaterwissenschaften war das Hauptfach, daneben hatte man unter anderem auch Kurse in Germanistik, Anglistik, Psychologie, Philosophie, Kunstgeschichte usw. Und es gab auch viele praktische Kurse. Das waren Kurse zu Inszenierung, Beleuchtung, und so weiter. Es war kein Regiestudium, weil man doch eher theoretische Sachen gemacht hat. Aber wir hatten schon auch ein paar Probebühnen, wo wir inszenieren konnten. Der Vorteil, in Gießen zu studieren, ist: Diese Stadt ist so langweilig, dass die Leute wirklich sehr gerne Projekte gemacht haben. Du hast immer Kollegen für Projekte gefunden. Es kommen auch wirklich sehr gute Theaterleute aus Gießen.
Du hast dann ja auch an verschiedenen Theatern gearbeitet.
Genau, ursprünglich habe ich freies Theater gemacht. In Frankfurt am Theater am Turm, in Hamburg, Kampnagelfabrik, im Hebbeltheater in Berlin. Das sind so die größeren freien Theater, da kam ich recht schnell rein. Und dann eben auch eher so Probebühne-Sachen für das Staatstheater in Dresden oder die Volksbühne in Berlin. Ein sehr schönes Projekt an der Schaubühne in Berlin.
Und du hast immer Regie gemacht?
Ja. Parallel zum Studium hatte ich schon Regieassistenz gemacht, am Burgtheater Wien und der Oper Hamburg. Aber als ich fertig mit dem Studium war, wollte ich keine Regieassistenz mehr machen. Jung und arrogant, wie ich war, war das nicht mein Ding, sondern ich fing sofort mit 27 an zu inszenieren. Parallel zu meinem Diplom inszenierte ich mein erstes Theaterstück in Berlin. Und das habe ich dann immer weiter gemacht. Keine klassischen Stücke, sondern eher zusammengestellte Textcollagen. Ich habe zu Themen wie RAF oder Krieg oder Humor gearbeitet und immer alles selbst gemacht.
Was sagst du eigentlich, wenn du nach deinem Beruf gefragt wirst? Bist du Regisseur? Oder Autor? Oder beides? Du hast ja neben dem Theater mittlerweile alles mögliche gemacht – Filme, Dokus, Musikvideos, Werbung, oder auch Konzerte gefilmt.
Ich würde mich als Regisseur bezeichnen. Und es ist es mir fast egal, was ich mache. Natürlich gibt es interessante und uninteressante Projekte, aber man kann in den verschiedensten Genres erzählen und suchen. Ich finde es toll, wechseln zu können und mich immer wieder neu auszuprobieren. Ja, ich schreibe auch ein bisschen, aber das ist nicht mein Hauptding. Ich bin Regisseur.
Und der rote Faden bei all deinen Aktivitäten ist das Erzählen von Geschichten?
Im Prinzip ja. Zum Beispiel suche ich auch bei Dokumentationen nach der Geschichte. Wie kann ich das herausarbeiten, was transportiert Tragik oder Freude? Ich interessiere mich für diese ganz banalen Emotionen. Und immer auch für Humor, der darin steckt. Wo wird es schräg, absurd? Das kann man in verschiedensten Bereichen machen.
Hast du eine bestimmte Herangehensweise, wenn du deine Geschichten erzählst?
Andere Leute sagen oft, „Das ist ein typischer Johannes!“. Dann heißt es, „Habe ich mir schon gedacht, dass das von dir ist.“ Ich selbst empfinde nicht so. Ich nehme es eher so wahr, dass ich immer wieder neu suche. Verschiedene Genreformen erfordern verschiedene Herangehensweisen, deswegen mag ich das auch so gerne. Ich glaube, ich hätte nie in einer Band sein können. Es sei denn, die Band hätte andauernd die Stile gewechselt und immer etwas Neues gemacht. Ich bewundere das manchmal, wenn Leute so lange als Gruppe zusammenarbeiten und im Grunde immer das Gleiche machen, auch wenn sie sich gemeinsam weiterentwickeln. Ich könnte das nicht, mich würde es wahnsinnig machen. Ich bin dafür zu neugierig. Vielleicht auch zu unstet. Ich freue mich immer, wenn ich Abwechslung habe.
Zum Beispiel bin ich nächste Woche in den Alpen und drehe Skifahren, in drei Wochen drehe ich das nächste Toten Hosen-Video und danach mache ich ein Projekt, in dem ich Leute über Recycling interviewe. Und das finde ich geil.
Ich will das Wort Geschichte nicht überstrapazieren, aber auch wenn mir dann jemand was über Recycling erzählt, werde ich nach dem Punkt suchen, an dem sich mir diese Fragen stellen: Warum macht er das? Wie kann ich es am schönsten erklären? Wie kann ich es visualisieren? Ich arbeite mich wahnsinnig gerne in andere Welten rein. Durchgängig. Das habe ich am Theater gemacht und das mache ich beim Film.
Gab es bei dir irgendwann eine Hinwendung zum Film oder hast du immer weiter Theater gemacht?
Zunächst lief das parallel. Ich habe jetzt aber ein paar Jahre kein Theater mehr gemacht. Gut, wegen Corona eh nicht, aber davor hatte ich auch schon drei oder vier Jahre kein Theater mehr gemacht. Ich habe mich immer mehr davon verabschiedet. Das hat mehrere Gründe. Zum Einen war ich mir selbst nicht erfolgreich genug. Irgendwie fand ich, dass das zu klein blieb. Zum Anderen war ich auf einmal Vater. Und freies Theater, wie ich es gemacht habe, das ist Selbstausbeutung pur. Dann kam ich Ende der 90ger zu den Musikvideos, das war ganz absurd. Bei einem Osterfrühstück von einem befreundeten Bühnenbildner lernte ich zufällig Philipp Stölzl, damals aus der Leitung von DoRo, kennen, das war in den Neunzigern die größte Musikvideofirma. Ich erzählte ihm, dass ich Theater mache, aber nebenbei als Bühnenarbeiter jobben musste, um mich über Wasser zu halten. Und er fragte, ob ich nicht lieber Musikvideos drehen wolle. Ich sagte, ich hätte überhaupt keine Ahnung, aber könne es ja mal probieren (lacht). So ging es mit den Musikvideos los. Ich hatte das gar nicht geplant, die haben einfach Leute gesucht damals. Ich fragte Philipp dann, ob ich erst mal assistieren könne. Als ich das erste mal als Regieassistenz beim Dreh war, habe ich die Leute zur Bühne gebeten und nicht zum Set (lacht), so fremd war mir das. Aber Philipp fand mich irgendwie gut. Ich habe dann bei ihm assistiert, mit ihm zusammen an Sachen gearbeitet, eine Art Co-Regie gemacht, aber auch meine ersten eigenen Videos gedreht. Da sah ich, dass die anderen Regisseure Storyboards machten, in denen sie zeichneten, was sie mit welcher Einstellung drehen wollten. Kannte ich nicht, im Theater macht man das nicht. Habe ich dann aber natürlich brav auch gemacht. Irgendwann kam der Kameramann bei meinem ersten Video, schaute sich das so an und sagte, es sei eine super Idee, dass ich alles frontal zeichne, nur aus einer Richtung, das mache sonst keiner. Aber ganz ehrlich: Ich kam einfach vom Theater, dort habe ich immer nur auf einer Stelle gesessen. Das war meine Perspektive. Ich kannte es nicht anders. Ich wusste nicht was eine Over-Shoulder oder ein Schuss-Gegenschuss ist. Das war damals ein einfaches Video für Terrorgruppe, nichts Wahnsinniges, aber es wurde sehr charmant. Was ich konnte, war, mit Leuten umgehen. Da war ich besser als die meisten Videoregisseure, weil ich es vom Theater total gewohnt war, mit Schauspielern zu tun zu haben. Manche Leute haben einfach gerne mit mir gearbeitet, weil ich sie gut geführt habe.
Du scheinst damals als Musikvideoregisseur schnell dazugelernt zu haben.
Ende der Neunziger waren die Zeiten so fett, dass man andauernd einen Job nach dem anderen bekam. Ich schrieb jedes Mal irgendwas in die Konzepte, das ich noch nicht kannte. Steadicam kannte ich nicht, habe ich für das nächste Video reingeschrieben. Danach wusste ich, wie es funktioniert. Genau so habe ich Kräne oder bestimmte Optiken reingeschrieben. Weil es fette Zeiten waren, war genug Geld da. So konnte ich ziemlich schnell ziemlich gut lernen. Außerdem sagte ich von Anfang an, dass ich ohne Berührungsängste alle Leute inszenieren würde. Einmal drehte ich die Kelly Family – einfach, weil ich bei einer Besprechung nicht dabei gewesen war und keiner das machen wollte. Also hatten sie im Team ohne mich beschlossen, dass ich doch aus einer großen Familie und außerdem vom Theater käme und bestimmt gut mit der Kelly Family umgehen könne (lacht). Das war dann ein Drei-Tage-Dreh, ein Tag in Köln, zwei Tage in Südafrika. Mit Hubschrauber und allem Schnickschnack, 300.000 Mark Budget. Unglaublich, das wollte keiner machen. So gesehen tun mir die Leute ein bisschen leid, die heutzutage mit Musikvideos anfangen. Heute würde sich die Crème de la Crème der Regisseure für dieses Kelly Family-Video bewerben. Und ich habe es nur gemacht, weil ich bei einer Besprechung gefehlt hatte.
Die Neunziger waren wirklich eine tolle Zeit, um zu lernen.
Du hast dann, abgesehen von den Hosen, Videos für Westernhagen, Grönemeyer, die Ärzte, Rosenstolz, oder auch die Broilers gemacht. Aber den vielleicht größten Spagat legtest du direkt 1998 hin: Neben dem besagten Terrorgruppe-Video drehtest du in diesem ersten Jahr auch ein Video für Modern Talking. Das ist wirklich sehr weit auseinander.
(lacht) Seien wir mal ganz ehrlich: Bei Musikvideos habe ich einfach alles gemacht. Ich wollte lernen, und daher war mir das egal. Modern Talking hatten ein großes Budget, das war gut. Und Terrorgruppe waren einfach sympathische, nette Kerle. Mit denen habe ich gerne gearbeitet, aber das Budget war halt klein. Das waren verschiedene Aufgaben. Ich muss auch sagen, ich habe einen relativ speziellen Musikgeschmack. Eher in Richtung Tom Waits. Alternative.
Gerade trägst du ein Sonic Youth Shirt.
Sonic Youth, genau (lacht). Das heißt letzten Endes, ich drehe eh sehr selten Musik, die ich mir privat kaufen würde. Besonders absurd war es aber am Anfang. Da habe ich einerseits freies Theater und andererseits die ersten, sehr kommerziellen Musikvideos bei DoRo gemacht. Einmal hatte ich eine Telefonbesprechung mit einem Dramaturgen. Er saß in Berlin, während ich in Miami auf einem Speed Boat war und Locations anschaute. Wir sprachen über Gedichte von Heiner Müller. Das war … schizophren (lacht). Lustig war es auch einmal beim Theater am Halleschen Ufer. Das ist ein eher intellektuelles Theater, und auch wenn ich selbst vielleicht einer bin, gehen mir Intellektuelle manchmal mit ihrer Arroganz gegen das Profane auf die Nerven. Es gab dort einen Abend, an dem experimentelle Theaterleute Filme zeigten, die sie gedreht hatten. Auch ich wurde gefragt und kündigte den Film „Bruder Luis“ an. Gezeigt wurde dann mein Video zu „Brother Louie“ von Modern Talking (lacht). Zwischen den ganzen experimentellen Filmen kam das erstaunlich gut an. Das gab ein großes Hallo. Jedenfalls, keine Frage, ich habe auch viel Scheiße gedreht. Wenn ich alte Videos anschaue, bin ich nicht auf alles stolz. Auch nicht ästhetisch, von meiner Seite aus. Aber ehrlich gesagt, ob ich jetzt für Modern Talking oder für Rosenstolz eine Kamera aufstelle … Damals gerne bei beiden! Ich war da hemmungslos. Es gibt ja Leute, die machen Kunst aus reiner Haltung. Das muss dann unbedingt links oder experimentell sein, ohne Kompromisse. Ich bin aber ehrlich gesagt auch immer gerne ins Volkstheater gegangen, obwohl ich selbst experimentelles Theater machte. Ich finde das spannend. Einmal machte ich eine Aufzeichnung von Beethovens 8. und 9. Sinfonie, mit dem berühmten Dirigenten Kurt Masur, den man mit „Maestro“ ansprechen musste. Sein Assistent fragte mich, was ich als Letztes gemacht hätte, damit er es seinem Meister sagen konnte. Und davor hatte ich halt ein Video für die Hosen gedreht. Das fand ich ganz geil, dass er da dann zu seinem „Maestro“ hingehen musste, um zu sagen, der Regisseur habe als letztes Die Toten Hosen gedreht (lacht). Ich finde es immer gut, wenn man mit verschiedenen Leuten und verschiedenen Gedanken zusammenkommt.
Lass uns über Die Toten Hosen sprechen! Du bist 1966 geboren, also warst du 16 Jahre alt, als die Hosen sich gründeten. Was sind deine ersten Erinnerungen an die Band?
Ich weiß es gar nicht. Als Jugendlicher bekam ich sie seltsamerweise nicht wirklich mit. Wahrscheinlich sollte ich das hier jetzt nicht breittreten, aber ich war nie Toten Hosen-Fan (lacht). Ich war auch kein Ärzte-Fan. Ich gehörte überhaupt nicht in diese Ecke. Zwar war die Musik, die ich hörte, gar nicht so ganz anders – The Clash waren mein Ding –, aber dann kamen ziemlich schnell schon Tom Waits, Nick Cave und diese ganzen Sachen. Die Toten Hosen kenn ich wahrscheinlich daher, dass ich besoffen auf irgendeiner Party bei „Bommerlunder“ mitgesungen habe. So in der Art. Das wäre jetzt aber nichts gewesen, was ich gekauft hätte, oder wo ich zum Konzert gegangen wäre. Ich war allerdings auch kein Gegner. Es gibt ja so Toten Hosen-Gegner. Generell war ich als Jugendlicher und junger Erwachsener immer sehr bemüht, als Arbeiterjunge ein Intellektueller zu sein (lacht). Da hat man dann eher Nick Cave gehört oder die Einstürzenden Neubauten. Klar, mit 15 oder 16, Anfang der Achtziger, habe ich vielleicht ein bisschen Neue Deutsche Welle gehört, das lief halt auf Partys. Aber ich war nicht so der Konzertgänger und ich habe auch viel klassische Musik gehört, viel Gustav Mahler zum Beispiel. Ich bin auch in Opern gegangen, das war meine Welt. Als ich das erste Mal als hauptverantwortlicher Regisseur für die Hosen drehte, beim „Altes Fieber“-Video, habe ich mir vorher ein Bandfoto an die Wand gehängt und alle Namen drunter geschrieben. Damit ich Breiti nicht versehentlich Andi nenne oder so. Ich habe alle Namen wirklich auswendig gelernt (lacht).
Hat es geholfen? Oder bist du trotzdem mal in ein Fettnäpfchen getreten?
Ich glaube, es ging. Da müsste man die Band fragen. Einmal fiel mir Breitis Name nicht ein und ich sagte zu ihm, „Du, kannst du mal bitte …“, und er hat direkt so geguckt. Breiti sagt ja oft nichts, er guckt dich an und nickt dann nur. Da habe ich mich erwischt gefühlt.
Wie hast du die Hosen kennengelernt, wie ging es mit der Zusammenarbeit los?
Eigentlich gab es einen doppelten Anfang. Der erste Anfang war das Video „Ich bin die Sehnsucht in dir" und danach das Video „Strom". Das waren zwei Videos, die offiziell Philipp Stölzl machte. In der Zeit habe ich bei Philipps Musikvideos oft für ihn vorgearbeitet. Bei „Sehnsucht“ lief es so, dass Philipp mir eine Idee hinwarf, ich sie ausarbeitete und dann schickten wir es eher unter Philipps Namen ab. Mein Name stand in den Konzepten schon mit drin, aber wahrscheinlich haben die Hosen mich gar nicht mitbekommen. Ich spiele bei „Sehnsucht“ sogar mit. Es gibt da diesen einen Moment, wo jemand in einer Parkebene in einem Auto sitzt und neben ihn wird das Wort „Freiheit“ projiziert. Das bin ich. Bei „Strom“ lief es dann ähnlich, Philipp drehte das Video, ich arbeitete ihm viel zu. Diese Videos waren schon Philipps Ding, aber ich machte viel mehr als ein Regieassistent. Es war teilweise wie eine verdeckte Co-Regie. Philipp inszenierte die Hosen, aber wenn die Hosen nicht da waren, inszenierte ich andere Leute. Teilweise haben wir auch parallel gearbeitet.
Und was war der zweite Anfang?
Der zweite Anfang war der Western, das „Altes Fieber“-Video. Das war 2012, da hatte ich eine unerfolgreiche Phase. Ich war ziemlich genervt. Und dann kam an unsere Filmproduktionsfirma Katapult die Musikvideoanfrage für „Altes Fieber“. Ingo Georgi, der Produzent, schickte mir den Song und ich rief ihn an und sagte, dass die Hosen mich doch eh nicht wollen würden und wieso ich da jetzt was schreiben sollte. „Tage wie diese“ war gerade ein Riesenhit, das Video hatte ein Kollege von mir gedreht, und ich dachte, ich hätte eh keine Chance. Ingo bat mich, trotzdem ein Konzept zu schreiben. Der Rhythmus und die leichte Melancholie von „Altes Fieber“ erinnerte mich daran, dass ich schon immer einen Western hatte drehen wollen. Ich hatte den Eindruck, das könnte passen und schrieb es runter. Aber ich gab mir nicht so viel Mühe im Detail. Ich schrieb eine halbe Seite und stellte ein paar Fotos zusammen. Dann schickten wir es den Hosen und einen halben Tag später kam der Anruf: „Geil, Western, wollen wir machen!“. Ich glaube, ich hatte einfach eine sehr gute Idee, dazu ganz gute Fotos und Filme als Referenzen ausgewählt: „Pat Garett jagt Billy the Kid“, „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“, so lässige Western. Das hat den Hosen gefallen. Schön fand ich, dass die Band nicht fragte, wer denn dieser Grebert sei und was er schon gemacht habe und ob er das überhaupt könne. Sie fanden einfach die Idee gut und wollten es mit mir machen. Das war toll. Es war der Anfang einer schönen Zusammenarbeit, die ja bis heute geht.
Die Idee ist ja sehr ungewöhnlich für ein nostalgisches, nachdenkliches Lied wie „Altes Fieber“. Man hätte sich auch ein klassisches Video vorstellen können, in dem Campino melancholisch durch die Gegend läuft.
Zum Einen steh ich nicht auf solche Videos und vermeide sie, wenn ich kann. Und zum Anderen empfand ich „Altes Fieber“ als einen sehr lässigen Song. Vor allem, weil der Rhythmus so treibend ist (macht das Schlagzeug nach). Für mich klang das irgendwie nach Flucht. Und dann braucht es bei mir manchmal nur eine Textzeile, dann gehen Geschichten in meinem Kopf los. An einer Stelle in dem Song geht es um den Tod …
Du meinst: „Wir stoßen an mit jedem Glas / auf alle, die draufgegangen sind“.
Genau. Da bekam ich ein Bild im Kopf von verfolgten Banditen oder Outlaws, die in einem Kampf draufgehen, einem Kampf um Leben und Tod. Mir gefällt auch diese Dramaturgie: Die Protagonisten retten sich noch einmal in eine Scheune und werden nacheinander abgeknallt. Dazu ein Song, in dem melancholisch an alte Zeiten gedacht wird. Für mich macht sich da etwas auf. Ich versuche bei Musikvideos oft zu umgehen, den Text 1:1 zu bebildern. Ich möchte, dass das Video dafür sorgt, dass man die Musik, den Text noch mal neu hört. Klar, manche finden, dass ein Western nicht zu dem Song passt. Dass man eher Leute in einer Kneipe sehen müsste, die saufen und davon erzählen, wie toll alles früher war. Oder vielleicht eine Beerdigung. Aber gerade, wenn man das mal so richtig aufreißt, entsteht noch mal was Neues. Das mag ich wahnsinnig gerne.
Mit dem Video wussten die Hosen dann auch, wer du bist.
Ja, damit haben wir uns kennengelernt. Es war natürlich direkt ein ziemlich mutiges Ding, weil es überhaupt keine Performance gab, sondern die Band Rollen spielte. Die Hosen überschätzen sich bei so etwas aber auch nicht, was ich sehr angenehm finde.
Sie wissen schon, dass sie zwar Superstars in der Musik, aber im Grunde Laienschauspieler sind.
Sie fragten mich auch, ob sie das überhaupt schaffen würden, aber ich konnte sie beruhigen. Wie gesagt, wenn ich etwas kann, dann ist das Leute inszenieren. Das traue ich mir dann auch zu. Nachdem wir das Video geschnitten und abgegeben hatten, rief Andi mich an und sagte, wenn es mir recht wäre, würde die Band gerne einen Schnitt ändern. Aber nur wenn es mir recht wäre. Ich dachte, „Wow!“. Es gefiel ihnen richtig gut. Und dann ging es auch noch um eine Schnittänderung, die absolut sinnvoll war. Das fand ich toll. Ja, richtig! Ändern wir! Es ging dabei auch nicht darum, wie die Hosen aussahen oder rüberkamen. In dem Schnitt waren sie gar nicht im Bild, es war ein inhaltlicher Schnitt.
Wie kommt es, dass du es so draufhast, Leute schauspielern zu lassen, die das eigentlich gar nicht können?
Talent? Keine Ahnung. Ich nehme die Leute ernst. Ich habe ja im Theater auch zum Teil mit Laien gearbeitet. Ich mag das. Klar, ich arbeite sehr gerne mit sehr guten Schauspielern, das ist keine Frage. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten mit Laien. Bei Musikvideos ist es immer ein bisschen schwierig, weil man sich meistens erst am Drehtag kennenlernt. Ich kannte die Hosen vorher ja nicht und konnte erst an dem Tag ein paar Sachen rausfinden. Heute kann ich die Band viel besser inszenieren, weil ich jetzt genau weiß, wer was kann. Zum Beispiel habe ich mich mal mit Breiti darauf geeinigt, dass er am besten ist, wenn er so gut wie gar nichts macht. Breiti kann sehr gut nichts machen! Es gibt Leute, die wirken wie tot, wenn sie nichts machen. Die müssen handeln. Aber bei Breiti hat man das Gefühl, dass wahnsinnig viel passiert. Er hat dieses coole, klare Gesicht. Breiti kann mit seinem Pokerface sogar Schafe dirigieren, im „Feiern im Regen“-Video. Oder bei „Alles passiert“, diesem Zirkus-Ding, fand ich ihn als Straight-Clown toll. Er verzieht da keine Miene. Klar macht er auch große Gesten, und das macht er natürlich toll. Er hat so einen extrem langen Körper, eine Karl Valentin-Figur, dünn und lang. Aber als ich ihn kennengelernte, versuchte Breiti, mehr zu machen. Ich merkte schnell, dass es dann Laientheater wird. Wenn er sich aber darauf verlässt, einfach nur zu sein, wird es auf einmal geil geheimnisvoll, oder schräg, je nach dem. Ich habe jeden kennengelernt und ich glaube, ich weiß jetzt, was ich von wem verlangen kann. Kuddel hatte in „Alles passiert“ seine erste größere Rolle. Ich dachte mir, er könne das wahnsinnig cool machen. Dieses leicht Unterdrückte. Nicht, weil er so ist, sondern weil er das spielen kann. Das ist ganz wichtig: Bei den Rollen, die ich mir ausdenke, geht es nie darum, wie die wirklichen Strukturen in der Band sind. Das weiß ich doch gar nicht, das geht mich auch nichts an. Sondern darum, wer was machen kann. Außerdem hat Campino am Anfang richtigerweise zu mir mal gesagt, dass ich rechtzeitig schneide. Bei einem guten Schauspieler kannst du sehr lang das Gesicht zeigen, aber bei Schauspiellaien, und das sind die Hosen bei aller Erfahrung, die die haben, eben immer auch noch, ist es oft so, dass sie fünf gute Sekunden haben, und dann muss der Schnitt kommen. Das ist bei jedem Laien so, das ist nichts Hosen-spezifisches.
Vom freut sich übrigens immer, dass ich ihn einmal umgebracht habe, beim „Altes Fieber“-Western. „You’ve killed me!“, sagt er immer (lacht).
Es fällt wirklich auf, dass die Hosen in den Videos, die du mit ihnen gedreht hast, sehr oft verkleidet sind und schauspielern. In all den Jahren davor ist das eher selten vorgekommen. Wie konnte das geschehen? Hast du das forciert?
Das liegt wirklich an mir. Bei vielen Musikvideoregisseuren ist die Performance sehr wichtig, die Band muss lässig mit den Gitarren rummachen und so weiter. Ich habe unzählige Performances in meinem Leben gedreht, aber ich muss zugeben, das ist wirklich das, was mich am wenigsten an Videos interessiert. Ich liebe es, zu den Songs Geschichten zu erfinden und in fremde Welten zu gehen. Auf den Zirkus in „Alles passiert“ kam ich einfach nur, weil Campino „Kein Hollywood“ singt, und dann heißt es im Text noch, „Wir gehen von der Bühne“. Erst dachte ich, das könnte ein Theater sein, aber ich als Theatertyp mag diese Theaterklischees nicht so, also kam ich auf Zirkus. Eine andere Bühne. Zirkus wollte ich immer schon machen. Ich liebe dreckige Clowns und das hat einfach gepasst. Ich suche für die Toten Hosen gerne nach Welten, die Dreck haben. Vielleicht kommt es vom Punk, aber die Typen haben auch einfach gute Gesichter. Du willst sie jedenfalls nicht in einer cleanen Welt haben. Und oft sind es diese Halbsätze in den Texten, die mich auf Ideen bringen, an die ich mich festkralle. Bei anderen Sachen ist es aber auch offensichtlicher. Dass „Wannsee“ an einem See spielt, ist jetzt wirklich kein Wunder. Hier war das Besondere, dass die Hosen nicht die Hauptrollen spielen. Sie können ja kein junges verliebtes Paar spielen. Aber sie sind alte Pfadfinder, Eisverkäufer, Angler, einmal fahren sie mit einem Ruderboot vorbei. Es hat totalen Spaß gemacht, die Band immer wieder völlig absurd einzubringen.
War es auch deine Idee, dass Rod von den Ärzten in dem Video auftaucht?
Ich würde es gerne behaupten, aber leider nein. Aber was er macht, das ist von mir. Die Hosen kamen mit der Idee, dass Rod mitspielt. Und als ich mich dann fragte, was ich mit Rod machen könnte, kam ich auf die Idee, dass er ankommt und „Ruhe!“ sagt (lacht). Auf dem Campingplatz muss einfach Ruhe herrschen. Es kam dann von Rod selbst, dass er noch „Scheißmucke“ sagte. Das hätte ich mich nicht getraut, vorzuschlagen. Fand ich aber sehr gut (lacht).
Was unterscheidet die Zusammenarbeit mit den Hosen von der mit anderen Künstlern?
Das Wort „Künstler“ trifft es ganz gut. Bei den Hosen ist die Auseinandersetzung mit den Musikvideos immer eine künstlerische. Es geht nicht darum, dass man Campino schön anziehen muss, es heißt nicht ständig, „Wir müssen an unsere Fans denken!“. Natürlich arbeitet man nicht gegen die Fans. Aber man unterwirft sich nicht. Außerdem sind die Hosen erstaunlich uneitel, gerade Campino. Er sagt oft, ich solle ihm einfach sagen, was er anziehen soll und dann würde er es anziehen. Was mir auch gefällt: Wenn wir eine Grundidee gefunden haben, die allen gefällt, dann bin ich ziemlich frei. Und wenn es in dem Video um Figuren geht, dann interessiert die Band sich für die Dramaturgie. Ich glaube, bei den meisten anderen Bands ist das Wort „Dramaturgie“ nicht mal gefallen. Mit Modern Talking redest du nicht über Dramaturgie. Die reden darüber, dass irgendwelche sexy Frauen im Bild sein müssen. Bei den Hosen geht es wirklich um Inhalte und um Kunst. Außerdem glaube ich, dass die Toten Hosen die freundlichste Band sind, die ich kenne. Freundlich nicht nur zu mir, sondern auch zum Team. Das sind Leute, die sich bei allen Teammitgliedern bedanken. Und wenn sie irgendetwas geändert haben wollen, ist die Tonlage immer auf Augenhöhe. Ich meine, sie sind ja Stars, aber sie sind wirklich null arrogant. Es gibt Bands, da kriegst du eine Liste: Das und das muss geändert werden. Punkt. Bei den Hosen ist es ganz anders. Meistens telefoniere ich mit Andi, weil er als Art Director zuständig dafür ist. Und das ist immer eine sehr angenehme Art der Zusammenarbeit.
Dein neustes Projekt mit den Hosen ist soeben erschienen: „Scheiß Wessis“ bzw. „Scheiß Ossis“. Ein Doppelvideo, zusammen mit Marteria. War das eine besondere Herausforderung?
Ja. Aber ich fand die Idee geil. Campino hat mir davon erzählt, noch bevor ich die Musik hörte. Er rief mich an, war einfach selbst begeistert und wollte es mit mir teilen. Ich finde das ganze Projekt großartig und die Herangehensweise sehr lässig. Ich mag es, dass die Wessi-Hosen „Scheiß Wessis“ singen und Marteria als Ossi singt „Scheiß Ossis“. Das hat Selbstironie. Und ich bin total froh, dass sie für die Videos mit mir mitgegangen sind, denn meine Idee war schon frech. Ich dachte mir, wer nach 30 Jahren Wiedervereinigung noch so einen Song braucht, der muss mal in Paartherapie (lacht). Lass uns eine Therapiestunde drehen! Ein Doppelvideo zu machen, war auch sehr interessant – viele Szenen sind ja fast gleich, aber ein bisschen anders geschnitten. Einmal mit der Aufmerksamkeit auf Marteria und einmal auf Campino. Das hat Spaß gemacht.
So sieht es auch aus. Das Video wirkt, als müsste es bei dem Dreh lustig zugegangen sein.
Ja, wir hatten Spaß (lacht). Als Regisseur sehe ich meine erste Aufgabe vor allem darin, mir zuerst eine gute Idee auszudenken. Und in meinen Storyboards schreibe ich das dann wirklich sehr genau alles auf, von A bis Z, jede Einstellung. Weil ich sehr viel drehe – teilweise auch mal 70 Einstellungen am Tag. Ich will so gut vorbereitet sein, dass ich während des Drehs eigentlich gar nicht mehr ins Storyboard gucken muss, sondern alles so sehr im Kopf habe, dass ich Unsinn machen kann. Und daran, dass ich diesen Unsinn machen darf, merkt man, dass die Band mir jetzt mehr vertraut als am Anfang unserer Zusammenarbeit. Manchmal sage ich: „Macht doch einfach mal! Wenn es scheiße wird, kommt es nicht rein!“. Um improvisieren zu können, muss man wahnsinnig gut vorbereitet sein.
Eine sehr bemerkenswerte Szene ist die tränenreiche Umarmung zwischen Roberto Blanco und Cem Özdemir. Stand das auch im Storyboard?
Ja (lacht). Katharina Witt und Andi liegen sich ja auch weinend in den Armen. Alle weinen darüber, dass sie Ossis und Wessis sind und trösten sich gegenseitig. Völlig absurd. Das habe ich übrigens von Fight Club geklaut. Da gibt es diese Szene, in der Edward Norton in einer Therapiestunde Meat Loaf umarmt und ihm das T-Shirt voll heult. Ich wollte es dann noch auf die Spitze treiben, indem Marteria irgendwann Campino wegschiebt, weil er ihm zu weinerlich ist, und ihm eine Flasche Rotkäppchen Sekt auf den Kopf haut. Die beiden schlagen sich dann ja auch. Man muss eben aufpassen, dass es nicht zu lieb wird, sondern auch ein bisschen böse bleibt. Als wir die Schlägerei gedreht haben, ging es auf einmal total ab und wir mussten mit der Kamera irgendwie hinterherkommen. Es fliegen ja auch Tische und Staffeleien um, das war nicht geplant. Sie sind einfach in die Ecke gefallen und dann haben wir druff gehalten. Hat Spaß gemacht. Aber Marteria und Campino können sich nur so hauen, weil sie echte Kumpels sind. Das wird verstanden. Dann kann man auch ein Video machen, in dem man sich die Fresse einhaut.
Danach gibt es ja auch einen sozialistischen Bruderkuss.
Ja, aber während des Bruderkusses kleben sie sich schon wieder gegenseitig Zettel auf den Rücken. Zoni und Kölner (lacht). Kölner kam nicht von mir, das wollte Campino unbedingt als Beleidigung, der Düsseldorfer (lacht).
Abschließend kann man eigentlich nur hoffen, dass du noch viele weitere spannende Projekte mit den Hosen verwirklichst.
Ich hoffe das auch. Wir haben ja auch diese Tour-Trailer gedreht, einmal mit Rudi Völler und dann mit Charly Hübner. Ich liebe es sehr, absurde Dialoge zu schreiben, deswegen gefällt mir der Trailer mit Charly Hübner ziemlich gut. Auf solche absurde Sachen hätte ich auch noch mal Lust. Für die Livekonzerte machten wir einen Backgroundfilm für den Song „Disco“, in dem die Hosen so seltsam tanzen. Ich hatte Andi nach einem Hosen-Konzert in meiner betrunkenen Arroganz gesagt, dass man auf der Bühne im Hintergrund noch viel mehr machen könne und dass ich das machen würde. Eine Woche später kam der Anruf und dann machte ich es wirklich (lacht). Ich liebe es, wenn man in eine ganz andere Richtung geht, neue Sachen ausprobiert und vielleicht auch mal anarchistischere Sachen macht. Wenn wir uns irgendwann anschauen und uns nichts mehr einfällt, dann sollten wir aufhören. Aber solange wir noch Ideen haben und neue Sachen entwickeln, solange können wir weitermachen. Ich würde mich freuen, wenn die Zusammenarbeit noch lange geht, ganz klar. Außerdem sind die Toten Hosen die einzige Band, mit der ich je gedreht habe, bei der alle Mitglieder älter sind als ich. Und das ist wirklich eine Leistung, so jung bin ich nicht (lacht).