"Die Toten Hosen" korrekt auszusprechen, war für uns schier unmöglich
Norberto „Ruso“ Verea (Instagram) ist eine Legende des argentinischen Radios. In den 1990er Jahren moderierte er von Sonntag bis Donnerstag jede Nacht die Sendung „Heavy Rock & Pop“, in der er über mehrere Stunden von Blues über Metal bis Punkrock alle Musikstile des Underground verbreitete, so wie es zuvor in Argentinien noch niemand getan hatte. Generationen von Teenagern wurden von ihm für Punk und Metal begeistert und saßen morgens mit Rändern unter den Augen und völlig geistesabwesend im Schulunterricht, weil sie bis in die frühen Morgenstunden heimlich unter der Bettdecke seine Sendung gehört hatten. Nebenbei bereitete Ruso auch uns mit den Toten Hosen den Weg in Argentinien, weil er dort als Erster unsere Platten im Radio auflegte und dadurch unsere Musik bekannt machte. Vor seiner Zeit beim Radio verdiente Ruso sein Geld als Fußballprofi, was zu seiner Legende in Argentinien noch beigetragen hat. Bis heute arbeitet Ruso für Radio und Fernsehen, um über die beiden hauptsächlichen Inhalte seines Lebens zu berichten: Musik und Fußball. Wie man sich als Fußballprofi in den 1980er Jahren durch die unteren Ligen des argentinischen Fußballs kämpfte, welche Abenteuer man beim Radio in Argentinien erleben kann, wie wir ihn kennenlernten und was Fußball mit Rockmusik zu tun hat, erzählt Ruso in diesem Interview:
(Die in Klammern gesetzten, hochgestellten Anmerkungen im Verlauf des Interviews sind Anmerkungen des Übersetzers.)
Erzähle uns doch zunächst von deiner Beziehung zum Fußball. Wie bist du überhaupt Fußballer geworden?
Meine Beziehung zum Fußball begann schon im Bauch meiner Mutter, während ihrer Schwangerschaft. Sie hat immer sehr stolz davon erzählt, dass sie bis kurz vor meiner Geburt bei jedem Spiel im Stadion war. Manche Menschen spielen ihren Babys während der Schwangerschaft Pink Floyd oder andere Musik vor, bei mir waren es die Gesänge der Fans von Independiente (CA Independiente Buenos Aires, einer der vier größten Clubs Argentiniens, zweimaliger Weltpokalsieger). Die andere wichtige Sache ist das Spiel selbst. Ich bin 64 Jahre alt, das heißt, dass ich Anfang der 60er Jahre in einem Viertel einer wohlhabenden Stadt aufgewachsen bin, wie es damals Buenos Aires war. Auf dem Bürgersteig oder der Straße zu spielen war normal, unser Club war das Viertel. Heute ist das undenkbar! So etwas wie Fußballschulen gab es nicht. Als kleines Kind habe ich Fußball einfach als Spaß gesehen. Natürlich haben wir uns geärgert, wenn wir verloren haben oder getunnelt wurden. Und wir haben uns geprügelt, wenn uns die Häme der Sieger auf die Nerven ging. Eben alles, was so passieren kann, wenn du dich im Alter zwischen vier und sechs Jahren weiterentwickelst und dazulernst. Später kam die Schule und mit dreizehn Jahren wurden wir Meister mit der Schulmannschaft. Wir haben gegen ältere Jungs in einem unvergesslichen Finale gewonnen! Es war so hart, dass die Lehrer dazwischen gehen mussten, weil wir uns auf dem Platz richtig heftig geprügelt haben. Mit 13 Jahren hatte ich nicht die Absicht Fußballer zu werden, aber ich mochte Fußball sehr.
Drei meiner Schulfreunde meldeten sich bei Independiente für ein Probetraining an. Damals musstest du dich anmelden und bekamst dann eine Einladung des Clubs. Es war ein Freitag - ich werde es nie vergessen. Wir waren morgens in der Schule und einer der Jungs kam zu mir, es war Mariano Villanueva, und er sagte: „Heute gehen mehrere von uns zu Independiente, um dort vorzuspielen. Warum kommst du nicht auch mit?" Wir waren alle im Meisterteam unserer Schule. „Nein", sagte ich ihm, „Ich habe doch gar keine Einladung. Sie werden mir in den Hintern treten." „Komm, Ruso, hol deine Klamotten von zu Hause und komm mit. Stell dich nicht so an, Ruso, ein Kerl wie du!" Und dann war ich so frech und ging einfach mit. Ich sagte meiner Mutter, sie brauche nicht für mich zu kochen, da ich zu Independiente zum Probespiel ginge. „Was? Du hast dich angemeldet und mir nichts gesagt?" Meine Mutter arbeitete in der Organisation des Vereins mit. Wir traten dort gegen Spieler an, die bereits für Independiente aktiv waren. Ich kassierte als Torwart neun Tore! Am Ende war ich voller Kratzer, ging total sauer zum Duschen und wollte nichts wie weg. Ich hatte nicht im Geringsten erwartet, dass sie sagten, ich solle bleiben. Aber dann riefen sie: „Junge, wo gehst du hin? Komm her! Nächsten Freitag kommst du wieder." Und so fing ich an, jeden Freitag zum Training zu gehen. Ich habe mich in dem Jahr total verändert und wurde Spieler der unteren Ligen. Als Leistungsschwimmer wusste ich bereits, was Training bedeutet und dass ich auf mich achten muss. So bin ich Fußballer geworden.
Und wie ging es dann weiter?
Es ist eine Sache zu erklären, wie man ein Fußballspieler wird. Es ist aber eine ganz andere Sache, jemandem, der das nie selber erlebt hat, ein Gefühl davon zu vermitteln, was es bedeutet, ein professioneller Fußballer zu sein. Oder was mit dir passiert, wenn du als Profi ein Fußballfeld betrittst. Ich würde mein letztes Hemd für die Möglichkeit geben, noch einmal ein richtiges Fußballspiel machen zu können, ernsthaft! Ich kann schon lange nicht mehr spielen. Ich habe zwei neue Hüftgelenke, habe keinen Meniskus mehr, die Arthrose hat mich umgebracht. Die Wahrheit ist, ein Fußballspiel fordert das Maximale an Konzentration, Adrenalin, Stärke, Fehlern, Überwindung, Freude, Spannung und Drama. Eine Grausamkeit! Diese Grausamkeit wird ein Teil deines Lebens, weil du ständig damit konfrontiert wirst.
Ich muss auch sagen, dass ich sehr gute Lehrer hatte, Typen die mich geformt haben. Als ich als Kind Wasserball spielte und weinte, weil ich ein Tor zugelassen und wir dadurch verloren hatten, nahm mich mein Trainer Eduardo Corcho auf dem Weg zur Umkleidekabine zur Seite und fragte: „Warum weinst du?" „Weil ich schuld bin, dass wir verloren haben. All die Anstrengung von den Jungs und jetzt haben wir wegen mir das Spiel verloren!" Er sagte mir: „Du kannst daraus lernen, im Wettbewerb zu bestehen. Und der Wettbewerb lehrt dich, dass du auch verlieren kannst. Hast du alles gegeben? Hast du absichtlich einen Fehler gemacht?" „Nein, aber..." „Dann ist doch alles gut, dann geh nach Hause."
Das hat mich für immer geprägt. Denn mir war nicht klar, dass ich Spaß haben musste. Wenn ich keinen Spaß habe, wofür, verdammt, mache ich es dann? Wenn ich also im Radio über Fußball spreche, wenn ich einen Bericht schreibe oder im Fernsehen ein Fußballspiel kommentiere, versuche ich den Leuten deutlich zu machen, nicht alles so dramatisch zu sehen. Wenn es keinen Spaß macht, dann ist das nichts für einen echten Fußballer. Es sollte nicht sein, dass ein Spieler vielleicht erst zehn Jahre nach Karriereende zu der Einsicht kommt, dass er Vergnügen dabei hatte, in einem verlorenen Finale zu spielen. Ich muss dazu sagen, auch wenn es sich für viele heutzutage vielleicht seltsam anhört, dass ich zu der Generation der 60er gehöre: Hippies, Kriege und Rock`n Roll. Da ist viel passiert und ich vermute, dass es eigentlich immer um die Suche nach dem Glück in einer beschissenen Welt ging, im Fußball wie in der Musik.
Heute höre ich die Jungs, die Rapmusik machen. Völlig klar, dass sie sich von diesem Stil angezogen fühlen und darin ihre Identität finden. Es ist eine antriebslose Generation, die wenig gefördert und motiviert wird, weil alles einfach zu haben ist. Gut für sie! Egal, ob sie gut singen können oder nicht - eine Maschine hilft ihnen. Egal, ob sie Musik spielen können oder nicht - sie kaufen sich einfach die Tracks. Und es ist auch egal, ob sie gut oder schlecht editieren können, weil sie einen Produzenten engagieren können, der das alles für sie macht. Und dann wiederum: Worüber singen oder rappen sie jetzt? Über die gleichen Dinge, die uns in den 60er, 70er und 80er Jahren beschäftigt haben. Wie sehr hat sich die Welt, nicht nur die eines Teenagers, in ihrem Streben nach Glück, bei der Suche nach einem glücklichen Leben verändert? Sehr wenig! In diesem Sinne, war ich immer Fußballer mit Rock`n Roll. Ich war immer ein Fußballer und werde es auch immer bleiben. Ich bin kein Musiker, aber ich bewundere deren Arbeit - deswegen habe ich auch nie meinen Platz getauscht. Die Bühne gehört den Musikern, genauso wie das Feld dem Fußballer gehört.
Wie verlief deine weitere Laufbahn als Spieler?
Über die Jugendmannschaften von Independiente schaffte ich es bis in die Erstligamannschaft, kam aber nie zum Einsatz. Daraufhin wurde ich an Talleres de Remedios de Escalada ausgeliehen. 1978 wurden wir Meister der 3.Liga. Ich hatte 30 Spiele gemacht, aber ich wurde rausgeschmissen und ein anderer übernahm meine Position. Dann kaufte mich Deportivo Español, da spielte ich 1979 und 1980. 1979 stiegen wir auf, aber dann übernahm Pedro Catalano meinen Platz im Tor und gab ihn nie wieder her, er wurde später zum Rekordspieler des Clubs. Ich spielte immer C-Liga, niemals A-Liga, immer auf der Suche nach Aufstiegsmöglichkeiten. In den letzten Jahren spielte ich Regionalmeisterschaften. Aber die Verletzungen wurden immer schlimmer und 1991 hörte ich auf. Meine Fußballkarriere dauerte von 1978 bis 1991.
Woher kam der Rock`n Roll, wenn die Liebe zum Fußball, wie du sagst, schon im Bauch deiner Mutter entstand?
Der Rock kam zu mir, weil mein Leben lang bei uns zu Hause Musik gespielt wurde und das Radio lief. Du musst berücksichtigen, aus welcher Zeit ich komme. Der Fernseher wurde erst um 18 Uhr eingeschaltet, deswegen lief den ganzen Tag vom Aufstehen bis zum Schlafengehen das Radio. Im Radio spielten sie die Beatles, die Rolling Stones und die ersten argentinischen Bands. Aber auch eine Tante von mir verhalf mir zur Musik. Neben unserem Haus gab es einen Haushaltswarenladen mit einer Schallplattenabteilung. Meine Tante erlaubte mir, zwei bis drei Singles pro Woche zu kaufen. So entdeckte ich Jethro Tull, und das war´s! Alles andere wurde unwichtig! Mit elf Jahren bekam ich die Single „A Song For Jeffrey" mit „It´s Breaking Me Up" auf der B-Seite. Diese Mischung aus Blues, Progressive Rock, Mundharmonika und Flöte - all das hat mich inspiriert. Ich habe jede Seite fünfzehn oder sechzehn Mal hintereinander gehört und meine Tante völlig verrückt gemacht, bis sie mir das erste Album „This Was“ besorgte. Das war eine extreme Wendung in meinem Leben, brutal! Und nachts war es das Radio mit all seinen Programmen. Zum Beispiel die Sendung: "El Tren Fantasma" (Der Geisterzug). Da konnte man Ska hören in einer Zeit, in der niemand einen blassen Schimmer davon hatte, was genau Ska eigentlich war. Du hast dauernd Musik gehört, die unglaublich war. Das hat mich süchtig gemacht. Das alles bin ich noch heute, mit 64 Jahren.
Und wie bist du zum Radio gekommen?
Wie ich dann zu „FM Rock & Pop“ gekommen bin? Das war totaler Zufall. Neben vielen anderen Sachen, die ich gemacht habe, verkaufte ich auch Platten an den Radiosender. Vormittags ging ich dorthin, um meine Platten zu verkaufen und war auch oft im Studio, während das Programm moderiert wurde. Einmal sagten sie plötzlich zu mir: „Komm mal Noberto, du könntest hier in der Sendung bei einem improvisierten Rollenspiel mitmachen." „Was muss ich tun?", fragte ich. Sie sagten: „Tu einfach so, als ob du ein Beamter wärst und lehne alles ab, was jemand von dir möchte. Sag, dass ihm irgendwelche Dokumente fehlen." Wir haben nur Unsinn ins Mikro geredet, einfach nur, weil ich in dem Moment da war. Eines Tages habe ich etwas für ihre Sendung geschrieben, „Eine Tour am Persischen Golf". Das war 1989, als sich die Yankees dort in die Auseinandersetzungen um das Erdöl einmischten. Ich schickte ihnen also „Eine Tour am Persischen Golf", damit sie es schon mal lesen konnten und brachte beim nächsten Mal meine Platten mit Punkrock auf Spanisch mit. Ich sagte: „Spielt diese Platten dazu, dann wird das großartig. Ihr werdet euch totlachen." Aber sie sagten: „Nee, komm, setz dich. Wir stellen dich vor und du machst es gleich selber." Und so haben wir eine Stunde lang live gesendet, bis der Besitzer des Radiosenders anrief, Daniel Grinbank. Er hat uns wüst beschimpft, drohte allen Prügel an und verlangte, dass sie mich sofort aus der Sendung schmeißen. Stell dir das mal vor, es war das erfolgreichste Programm des Senders, mit einer Million Hörern jeden Tag. Und dann lassen sie den Schwachkopf, der die Platten verkauft, mit „Eine Tour am Persischen Golf" ans Mikrofon. Für eine Stunde!
Als Grinbank nach Hause kam, sagte seine Frau: „Was für eine krasse Sendung!" Und er sagte: „Sag nichts! Ich bringe den um!" Aber seine Frau meinte: „Nein! Ich habe mich totgelacht!" Und die Geschäftsführerin des Senders, die gerade frisch an ihren Hämorrhoiden operiert worden war, sagte zu Grinbank: „Ich musste das Radio ausschalten, weil mir der Arsch vor Lachen so weh tat!"
An einem anderen Tag kam ich wieder, um meine Platten zu verkaufen. Ich kann mich daran erinnern, als ob es heute wäre. Der musikalische Direktor des Senders sagte zu mir, dass er mit mir reden müsse. Ich fragte: „Was ist los? Gibt es Probleme mit einer Rechnung?" „Nein, Ruso, setz dich und entspann dich. Möchtest du die Sendung „Heavy Rock & Pop“ produzieren und die Musik auflegen? Hast du dir die Sendung schon mal angehört?" Ich sagte, dass ich die Sendung hörte, seitdem sie vor eineinhalb Monaten ins Programm genommen worden war. Sie wurde vorproduziert und sonntagnachts gesendet, aber es fehlte ihr immer an guter Musik. „Genau deswegen, Ruso. Wir investieren nicht mehr in die Sendung. Die „Heavy Pop & Rock“ ist klinisch tot, die Zuhörerzahlen sind miserabel. Warum produzierst du sie nicht und legst die Musik auf?“ Ich sagte: „Meinst du wirklich? Ich habe noch nie Radio gemacht." Zwei Tage nach unserem Gespräch ging ich hin, um den Vertrag zu unterschreiben. Da sagten sie: „Überleg dir was, wir wollen, dass du gleich heute auf Sendung gehst. Alejandro Nagy wird dabei sein, er ist ein erfahrener Radiomoderator.“ Okay! Also, am 1. Mai 1990 fing ich an, Radio zu machen. Das sind inzwischen 31 Jahre.
Von all deinen Studiogästen, die du im „Heavy Rock & Pop“ bei dir hattest - wer ist dir besonders in Erinnerung geblieben?
Es waren sehr viele. Wir sind damals auf einer riesigen Welle gesurft. Es war eine Zeit, als wirklich alle nach Argentinien kamen, um dort Konzerte zu spielen. Der erste internationale Gast war Joey Ramone. An diesem Tag fiel er im Studio mit dem Stuhl um, seine Brille zerbrach und wir servierten ihm einen Kaffee, der nach Petroleum schmeckte. Ein Desaster, einfach alles ging schief! Ein Assistent brachte ihm Schallplatten, und weil er sich witzig vorkam, gab er Joey eine Platte von Madonna. Joey sagte dann live: „Ich werde Madonna nicht spielen. Aber sie hätte es verdient, weil sie mehr Eier hat als viele, die im Rock´n Roll unterwegs sind." Später fragte Joey von selbst, ob er nochmal in die Sendung kommen könne, um eigene Platten mitzubringen, die er seinen Fans vorspielen wollte, damit sie mal etwas anderes hörten.
Dann war da Steve Jones (Gitarrist der Sex Pistols, Professionals u.a.), mit dieser Härte. Ich rede hier nicht über seinen Drogenkonsum, ich meine sein hartes Leben. Er erzählte, dass seine Mutter lieber mit seinem Stiefvater durchbrannte, anstatt bei ihm zu bleiben. Mit Steve Jones habe ich zusammen Fußball gespielt. Oder wie Tommy Iommi (Gitarrist von Black Sabbath) reinkam, dicht gefolgt von Ronnie James Dio (Sänger von Black Sabbath, Rainbow, u.a.), und zu mir sagte: „Norberto, danke für die Einladung in deine Show. Es ist eine Ehre für uns." Kreator kamen auch, total wütend auf das Leben. Alle von Anthrax. Suicidal Tendencies mit Trujillo, der perfekt Spanisch spricht. Er konnte es nicht fassen, dass unsere Übersetzerin Laurita California einfach alles übersetzte, obwohl alle fünf Wahnsinnigen gleichzeitig durcheinander redeten. Mit Lemmy (Lemmy Kilmister, Sänger von Motörhead) war es nochmal etwas ganz anderes für mich, denn er war immer mein Idol. Die ersten drei Jahre kam er nicht in meine Sendung. Er sagte:
„Ich habe um Mitternacht nichts im Radio verloren. Um diese Uhrzeit muss ich mit Frauen im Bett liegen, anstatt Blödsinn im Radio zu erzählen."
Er kam einfach nicht. Aber irgendwann kam er doch und es war ein Fest bis 4 Uhr morgens. Slash! Er kam einfach als Slash, ohne Guns N`Roses. Morgens habe ich ihn interviewt, und als wir danach ein Foto machten, umarmte ich ihn und sagte, dass ich dafür sterben würde, wenn er in meine Sendung käme, weil ich sein großartiges Schaffen bewunderte. Er fragte: „Warum willst du, dass ich komme?" „Damit du Musik auflegst." „Und was für Musik soll ich spielen?" „Ich bringe dir 300 Platten mit." Er schaute mich von der Seite an und sagte: „Echt jetzt? Mal sehen. Vielleicht mache ich das." Um 5 Uhr am Nachmittag riefen sie mich aus der Verwaltung von Rock & Pop an: „Bist du verrückt geworden? Weißt du eigentlich was das an Aufwand bedeutet, wenn Slash zu uns kommt? Ist dir klar, was wir jetzt alles auf die Beine stellen müssen? Sobald du mit ihm live auf Sendung gehst, wird hier alles explodieren. Die Fans werden die Umgebung sprengen!" Sie sagten: „Er will, dass du die 300 Platten am Start hast, du sollst russischen Wodka mitbringen und er kümmert sich um den Heidelbeersaft. Gilby Clark (Gitarrist von Guns´n Roses, Slash´s Snakepit, u.a.) möchte Zitrone, Salz und Corona Bier. Die anderen trinken Cidre." Oder auch das erste Mal, als Bruce Dickinson (Sänger von Iron Maiden) kam, um "Fear Of The Dark" vorzustellen. 400 Verrückte versammelten sich vor unserem Sender! „Hättet ihr das nicht vorhersehen können?", fragte er. „Jetzt muss ich 400 Leute begrüßen, es ist 04:30 Uhr morgens und ich bin betrunken." „Wenn du mir versprichst, dass du jedem ein Autogramm gibst und ein Foto machst, dann organisiere ich das jetzt." Stell dir das mal vor, manche hatten zum Teil 40 Platten dabei! Sie kamen zusammen mit allen ihren Freunden aus dem Viertel. Dickinson sagte, er würde jedem eine Platte unterschreiben und ein Foto machen. Ich ging also raus, um mit den Leuten zu reden und sie zu organisieren. Die Schlange war mehrere Häuserblocks lang! Einer nach dem anderen bekam ein Autogramm und ein Foto. Es hat bis 05:30 Uhr morgens gedauert. An einem Sonntag: Blackie Lawless (Sänger und Gitarrist von W.A.S.P.). Er wartete mit Pizza auf mich. Ich hatte mich verspätet und die Pizza war kalt, und der zwei Meter große Typ sagte: "Super, die Pizza ist inzwischen kalt. Was soll ich jetzt machen?" Aber genau wie Dickinson hat er noch Autogramme gegeben und ist um erst 04:30 Uhr in der Nacht gegangen. Ein anderes Mal kam erneut Joey Ramone zu uns. Im Gebäude nebenan, in dem Radio Buenos Aires seinen Sitz hatte, war ein berühmter Radiomoderator, Riverito. Er hatte sein Auto vor der Tür geparkt. Die Ramones-Fans, die draußen warteten, malten sein ganzes Auto voll! Riveritos Frau staunte nicht schlecht, als sie „Ramones" auf dem Beifahrerfenster las. Er wollte uns alle umbringen! Und so habe ich Millionen von Anekdoten…
Aber nichts ist mit dem Besuch von Sebastian Bach (Sänger von „Skid Row“) zu vergleichen...
Sebastian Bach kam völlig fertig und total drauf in unser Studio. Und ich hatte das Glück oder eben Pech ihm die Platte "March Ör Die" von Motörhead zu zeigen, die erst am Vorabend erschienen war. "Nein! Die neue Platte von Motörhead!", fing er an zu schreien. Obwohl er mitbekam, dass gerade „Cat Scratch Fever" von Ted Nugent lief, fing Sebastian Bach an, vor die Glasscheibe unserer Studiokabine zu schlagen. „Ich will sofort Motörhead hören!" Wir legten also die Platte auf und die Geschichte nahm ihren Lauf. Rachel Bolan (Bassist von Skid Row) stand direkt auf und verließ das Studio. Der Schlagzeuger wiederum wollte ein Mädchen im Flur vögeln, dem war alles egal. Bach schlug währenddessen total aufgeregt weiter an das Fenster der Kabine und schrie jetzt: "Cat Scratch Fever!" An diesem Tag fing bei uns ein neues Mädchen als Übersetzerin an. Sie sprach wunderbares Englisch, aber sie hatte keine Erfahrung beim Radio. Sie war sehr aufgeregt, weil sie zum ersten Mal auf Sendung war und dann auch noch mit diesem gutaussehenden Zwei-Meter-Typen. Auf einmal nahm der seinen Schwanz und versuchte, über die Schulter meines Kollegen Nagy in einen Aschenbecher zu pinkeln. Nagy sprang auf und schrie ihn an, er solle zum Teufel gehen! Das arme Mädchen wurde total rot. Sie wusste überhaupt nicht, wohin mit sich, und ich sagte zu ihr: „Herzlich willkommen im Rock´n Roll!" Wir konnten nichts machen. Drei Grüße, drei Fragen, drei dämliche Antworten, und dann war das Interview vorbei. Dann packte mich Sebastian am Kragen und sagte: „Lass uns abhauen! Das Hotel ist voller Mädchen, was zum Teufel machen wir hier überhaupt? Lass uns verschwinden!“ Unmöglich. Weißt du, wie er gegangen ist? Im Auto von Chino, dem damaligen Bassisten der Band „Escocia" und heutigen Besitzer des Radiosenders Vorterix. Er hatte einen Peugeot 504. In das Auto von dem Chauffeur, der sie gebracht hatte, ist Bach gar nicht erst eingestiegen. Er stieg in das erste Auto, das vorbeifuhr, und das war Chino`s. Bach öffnete das Autodach, stellte sich hin und hob beide Arme in Jubelpose hoch, wie ein Fußballultra mitten in einer Siegesfeier. So fuhren sie Richtung Sheraton. Ian Anderson von Jethro Tull kam auch. Das war am gleichen Tag, als ich Lemmy zum ersten Mal getroffen hatte, um halb sieben abends im Sheraton Hotel. Nachts kam dann Ian Anderson in unser Studio.
An diesem Tag hättest du bestimmt vor Glück sterben können!
Es kommt noch besser. Ich erzählte Lemmy, dass Ian Anderson an dem Abend mein Gast sein würde. Er schaute mich an und meinte: „Richte ihm meinen Respekt aus." Dann erzählte ich Ian von Lemmy, darauf sagte der: „Du hast Lemmy getroffen? Du hättest mir Bescheid geben müssen! Der schuldet mir immer noch ein britisches Pfund! Vor 30 Jahren habe ich ihm ein Pfund geliehen - das hat er mir bis heute nicht zurückgezahlt!" Sie hatten Ian erzählt, dass ich verrückt nach Jethro Tull war. Er begrüßte alle, fragte nach der Toilette, ging sich die Hände waschen, kam zurück und sagte: „Ich werde niemanden mehr anfassen, weil ich gleich meine Flöte nehmen werde." Er spielte „Bouree“ und „Rocks on the Road“. Er hatte einen DAT-Rekorder mit einem kleinen Lautsprecher mitgebracht, stellte das Mikrofon ein und setzte sich Kopfhörer auf, um sich selber hören zu können. Er produzierte alles selbst zusammen mit dem Radio-Techniker. Mit dem DAT-Rekorder zeichnete er dann die Musik der Mundharmonika und alles Drum und Dran selber auf.
Und du hast bestimmt geweint vor Glück?
Ich konnte es einfach selbst nicht glauben! Manchmal denke ich, es sind Geschenke, die dir das Leben macht. Aber ob ich sie verdient habe oder nicht – das weiß ich nicht. Das sind diese Momente, die ich mit internationalen Gästen erleben durfte. Auch Bluesmusiker sind gekommen. Als Magic Slim (amerikan. Blues-Gitarrist) zu uns ins Studio kam, haben wir gerade Mate (anregende Teesorte, argentinisches Nationalgetränk) getrunken. Eigentlich komisch, denn normalerweise tranken wir jeden Abend Alkohol. Als wir Magic Slim auch Mate anboten, lehnte der ab: „Nein danke. Ich nehme schon lange keine Drogen mehr." Wir haben Tränen gelacht!
Und die Hosen? Wie kamen die ins Spiel?
Wegen Pil (Sänger der Band „Los Violadores"). Pil kam vorbei, um ein Interview zu geben. Ich hatte die zweite Show von „Los Violadores" gesehen, zusammen mit meiner Frau Cristina, seitdem hatte ich eine Verbindung zu ihm. Pil kam also eines Tages zu mir – übrigens noch jemand außer meiner Frau, der mich Norberto nennt – und sagte: „Norberto, ich habe eine Kassette von einer deutschen Band, die du dir unbedingt anhören solltest!" Und ich sagte ihm: „Nein, wir gehen direkt auf Sendung! Los komm, such ein Lied aus, das du spielen willst und erzähl uns, wer sie sind." Von diesem Zeitpunkt an war eine unvergleichliche Liebe geboren!
Die Toten Hosen kamen in Argentinien an, als gerade die „Ramones“ in Buenos Aires waren. Es hätte keinen besseren Moment geben können!
So fing man an, die Hosen in Argentinien zu hören, mit der Kassette, die Pil mitgebracht hatte. Den Namen „Die Toten Hosen“ korrekt auszusprechen, war für uns schier unmöglich. Der Einzige, der es mehr oder weniger unfallfrei hinbekam, war mein Co-Moderator Alejandro Nagy. Nicht in perfektem Deutsch, aber es hörte sich am ähnlichsten an. Die Toten Hosen wurden dann immer bekannter, weil die Leute mehr von ihnen hören wollten. Pil wusste genau, welche Lieder er aussuchen und spielen musste. Er erzählte die Geschichte von „Bommerlunder" und was passierte? Es kamen immer mehr Anfragen nach den Toten Hosen. Und so fingen wir an, ihre Musik aufzulegen. Wir haben uns natürlich auf die Suche nach Platten gemacht, dabei hat Michael Reichel sehr geholfen. Er war kurz zuvor aus Deutschland nach Buenos Aires gekommen, um dort zu arbeiten, ein guter Freund und unglaublicher Kerl. Wegen ihrer Musik wurden die Toten Hosen immer bekannter. Damals ging auch die Sache los, dass die Leute "Los Titos de Once“ anstatt „Die Toten Hosen“ verstanden. Sie wurden einfach zu "Los Titos de Once" und die Leute verlangten das wir "Los Titos de Once (Los Titos=Spitzname, de Once=aus Once, Stadtteil von Buenos Aires) spielten. Und schließlich kamen sie, um live zu spielen. Punks, Deutsche, blond, betrunken und knallbunt angezogen. Ihre Shows machten Spaß. Sie hörten nicht auf, Dinge beim Namen zu nennen, sie waren immer voll engagiert. Es war wie eine nicht enden wollende Party, und immer unaufhaltsam auf dem Weg zur nächsten Party: Los geht´s!
Was waren deine ersten Eindrücke von den Hosen, als du sie kennengelernt hast?
Kuddel war müde, er hatte viel Bier getrunken und durch die Scheinwerfer des Fernsehstudios, wo wir eine Sondersendung machten, war es sehr heiß. Ich moderierte die Sendung "El Especial de la Casa (Spezialität des Hauses)" auf Much Music. Campino war voll am Start, Breiti genauso, er wollte sofort anfangen die ersten Worte auf Spanisch zu sprechen. Kuddel ist eingeschlafen! Das Besondere an ihnen war immer, dass sie ihre Musik bei den Konzerten mit starker körperlicher Präsenz unterstützt haben. Und diese Präsenz, bei einer Band wie den Toten Hosen, ist sehr beeindruckend. Das hebt sie hervor und verstärkt ihr musikalisches Potenzial enorm. Die Hosen sind eine Band, die den Punk hinter sich gelassen hat. Nicht wegen ihres Erfolges oder weil sie berühmt geworden sind, sondern aus dem einfachen Grund, dass sie sich in ihrem Leben weiterentwickelt haben und keine Angst davor hatten, das auch musikalisch zu tun. Wie kann eine solche Band keinen Erfolg haben? Inzwischen haben wir Argentinier sie zu einem Teil von uns gemacht, zu unserer Leidenschaft. Dann ist da unsere Lautmalerei: Wir versuchen, auf Deutsch zu singen und können nicht mal „Auf Wiedersehen" sagen. Macht nichts! Dieses Geben und Nehmen ist ansteckend. Und dieses Mitreißende ist eng mit dem Fußball verbunden. Auch wenn ich nie Fußball mit Kunst vermische, oder wie in diesem Fall mit Musik: Es gibt trotzdem ähnliche Wurzeln. So wie die Hosen beim Fußball Fortuna Düsseldorf unterstützen. Der Fan muss bei beidem seine Leidenschaft ausleben können, die Fahne des Clubs zeigen und alles was damit verbunden ist. Sie sind eine Band des Fußballstadions. Immer im Kontakt mit dem Publikum. Nah dran. Sie spielen an einer Straßenecke in San Telmo (Stadtteil von Buenos Aires) genauso wie in einem großen Stadion. Oder mischen eine Bruchbude mit 200 Personen auf. Oder spielen auf einem Balkon (Spontankonzert in der Innenstadt von Buenos Aires, 2009). Solche Aktionen! All das verstärkt das Wichtigste: ihre Musik, ihre Kunst. Die Hosen-Bewegung in Argentinien hat etwas damit zu tun, wie die Toten Hosen ihre Leidenschaft in ihrer Musik transportieren.
Was glaubst du, wie wichtig es für die Hosen war, bei dem offiziellen Abschiedskonzert der Ramones 1996 im River Plate Stadion „El Monumental“ zu spielen?
Ich denke, dass es für sie unvorstellbar war und sie die Gelegenheit, die sich ihnen bot, beim Schopf packten und sich sagten: „Jetzt oder nie!" Alle wussten, dass so etwas nie wieder passieren würde. Sie wurden Teil der Geschichte. An einem Ort wie dem River Plate Stadion, an dem die „Ramones“ gefeiert wurden wie die Beatles, konnten sie bei diesem Abschiedskonzert mitwirken. Zusammen mit niemand Geringerem als dem Leguan - Iggy Pop. Das ist ein Geschenk! Es ist, als könnte man der eigenen Mutter stolz sagen: "Mama, ich hab´s geschafft! Es war alles nicht umsonst!"
Warum ist diese Band in Argentinien noch so aktuell, obwohl es 30 Jahre her ist, dass sie zum ersten Mal in Argentinien gespielt haben? Was glaubst du?
Als erstes, weil ihre Musik Grenzen überwindet. Und zweitens, weil die Menschen hier offen waren für ihre Musik. Diese Musik öffnete Türen für viele Leute, die sich von den Hosen angesprochen fühlten, obwohl es eigentlich nicht so ihre Musik war. Die Fans der ersten Stunde haben das im Fall der Hosen akzeptiert - das ist bei den Bands von hier sonst nicht üblich. Das sollte uns Argentinier übrigens dazu bringen, mal über unsere eigene intellektuelle Armut nachzudenken. Ein Beispiel: BB King (legendärer amerikanischer Blues-Musiker) würdigte Pappo (Norberto Napolitano, argentinischer Musiker und Komponist, Pionier argentinischer Rockmusik) und seine künstlerische Arbeit - und alle, die Pappo nicht mochten, konnten nichts mehr sagen, weil BB King Pappo gut fand. Warum wissen Ausländer unsere Künstler zu schätzen, aber wir nicht? Da sollten wir uns mal hinterfragen.
Und das haben die Hosen geschafft, verdammt, und wie sie es geschafft haben! Du nimmst Leute mit zur Show der Hosen und... Schau, es ist mir selber im Auditorio Sur (Konzerthalle im Süden von Buenos Aires, Konzert 2010) passiert. Ich habe fünf Jungs mit zum Konzert genommen, die die Toten Hosen noch nie in ihrem Leben gesehen hatten. Unter anderem einen Architekten, einen Textilunternehmer, und einer war der König eines Gourmet Magazins, eins von denen, die über Olivenöl und Weine schreiben. Sie alle tanzten am Ende Pogo, total verschwitzt und durchnässt, und warfen sich über wildfremde Leute. Ihnen war alles egal! 50jährige die kein verdammtes Lied kannten. Als die Show zu Ende war, waren sie so energiegeladen, dass sie sagten: „Hey, so endet die Nacht aber nicht!" Ich musste einen Grill in Lanus (Stadt in der Provinz Buenos Aires) anrufen, der kurz vor seinem Feierabend war, und sagte: „Mann, pass auf. Wir kommen und wir sind zu zehnt. Stell genügend Flaschen Wein bereit, weil wir euren Laden auseinandernehmen werden!" Unsere Stimmung war überragend. Verstehst du mich? 50jährige! Die sagten: „Diese Typen auf der Bühne haben uns mit ihrer Energie fast umgebracht!“ Wohlhabende Leute. Alle haben Platten gekauft und sich die Videos angesehen. Wenn heute die Toten Hosen hier spielen, gehen wir alle zusammen hin.
Was war dein Lieblingsmoment, den du mit den Toten Hosen erlebt hast?
Das ist eine Geschichte, die ich mit Mundy Epifanio (damaliger Manager des Halley) im Halley`s Club (erstes Konzert der Toten Hosen in Argentinien, 1992) erlebt habe, das war etwas ganz Besonderes, das war wirklich wild! Als Campino während des Konzerts an den Röhren unter der Hallendecke zu klettern begann, schaute ich Mundy an und fragte: „Wusstest du, dass er gerne klettert und sich an die Decken hängt?!" Und Mundy meinte: „Ja, Ruso, ich weiß. Ich hoffe nur so sehr, dass er sich nicht an das falsche Rohr hängt, eine der Röhren da oben hängt nur ganz lose.“ „Wie, das falsche Rohr?" Währenddessen kletterte dieser wahnsinnige Campino weiter. „Wir müssen ihm Bescheid sagen!" sagte ich. „Nein, Ruso. Es ist zu spät dafür. Wir können ihm gar nichts mehr sagen. Die Band ist viel zu laut und er klettert schon da oben.“ Und auf einmal ließ sich Campino von einem dieser Rohre hängen. Er hing da und die Leute sind durchgedreht. Sie waren außer sich! Der Typ baumelte da und wir reden hier über mehrere Meter und eine sehr große Fallhöhe. Und dann sagte Mundy diesen Satz: „Was für ein Glück, dass er sich genau dieses Rohr ausgesucht hat. Hätte er versucht, sich an das andere zu hängen, läge er jetzt zerschmettert am Boden." Das war ein ganz besonderer Moment, denn es war der Beginn der Toten Hosen in Argentinien - und fast schon wieder das Ende!
Wie war es für dich, als du 2012 die Toten Hosen als Ehrengäste der Stadt Buenos Aires präsentieren durftest?
Das war etwas wirklich Besonderes für mich. Es fand in der Sporthalle der Argentinos Juniors statt (Konzert im Estadio Malvinas, 2012). Es war so besonders für mich, weil Campino dem Publikum von mir erzählte und was die Band über mich denkt. Und auf welche wunderbare Art und Weise! Ich wollte gar nicht auf die Bühne gehen. Ich bot ihnen an, sie hinter der Bühne anzukündigen und dort meine Anmoderation zu machen. Ich sagte ja schon, für mich gehört die Bühne den Musikern. Aber dann kam Campino zu mir und sagte: „Wenn du nicht auf die Bühne kommst, sagen wir alles ab". Damit hat er mich gehabt. Wenn die Bühne den Musikern gehört, sind sie auch diejenigen, die die Entscheidungen treffen. Es war auch total verrückt, dass eine Politikerin auf der Bühne stand, um ihnen die Auszeichnung zu überreichen. Und Campino löste diese seltsame Situation auf und brach mit dem Protokoll, indem er dieser Abgeordneten einen Kuss gab, nachdem sie das Projekt vorgestellt hatte. Lassen wir mal das Ausnutzen so einer Situation durch die Abgeordnete für ihre Zwecke beiseite. Es gab zwei Hosen-Fans, die diese Aktion in Gang gesetzt hatten. Die alles Menschenmögliche getan und das ganze Internet in Aufruhr versetzt hatten, um tausende von Unterschriften zu sammeln, damit eine Politikerin auf der Bühne steht, um die Hosen „Ehrenbürger" zu nennen. Das ist dann ein Moment, in dem ich denke: „Das ist total typisch für uns Argentinier!“ Und die Toten Hosen haben diese Ehre zu würdigen gewusst, mit Respekt angenommen und trotzdem machten sie auf der anderen Seite auch, was sie tun mussten, um authentisch zu sein, nämlich: „Ach was, Ehrenbürger! Fuck you!“ Und ihre Art das zu tun, war einfach die Abgeordnete auf der Bühne zu küssen.
Seit mehr als einem Jahr leben wir in einer Pandemie. Wie erlebst du diese Situation?
Da muss ich überlegen... Pandemie: unterschiedliche Teile der Welt, unterschiedlich organisiert, unterschiedliche Staatsoberhäupter und unterschiedliche Chancen oder Möglichkeiten. Nicht nur durch Wirtschaft und Infrastruktur, sondern auch durch die Möglichkeiten der Machtausübung. Das sagt dir jemand aus dem unterentwickelten Argentinien. Die Pandemie erlebe ich aus dieser Perspektive, von einem Ort absoluter Ignoranz. Ich bin unwissend, also höre ich zu. Emil Cioran (rumänischer Philosoph, gestorben 1995) sagte, er wünsche sich, unwissend zu sein, weil man auf diese Art viel besser lebt, als jemand, der versucht, alles zu verstehen. Ich habe einen anderen Ansatz. Da ich unwissend bin, höre ich zu und unterwerfe mich und befolge Anordnungen. Allerdings bin ich so auch den Widersprüchen der Wissenden ausgesetzt. Heute nutzen wir bereits Impfstoffe, die noch in der Phase 3 der Entwicklung sind. Wir mussten Impfstoffe sehr viel früher zulassen als sonst. Es ging alles sehr schnell. Es handelt sich um einen globalen Notfall und ich verstehe das. Aber die Realität ist auch, dass große Pharmaunternehmen alle Länder unterschreiben ließen, inmitten aller Widersprüche, dass sie keine Verantwortung übernehmen werden, falls irgendetwas schiefläuft. An dieser Stelle und auch angesichts der Widersprüche, muss ich dir sagen, dass Argentinien ein ganz besonders Land ist. Nach nur zwei Monaten Pandemie waren wir alle Spezialisten für Infektionskrankheiten, nach vier Monaten Experten im Krisenmanagement, nach sechs Monaten waren wir alle Teilnehmer des Krisenstabs und nach acht Monaten wurden wir zu Therapeuten. Nun sind wir die Gebrüder Pasteur und sind tatsächlich so weit, dass wir darüber diskutieren, welcher Impfstoff der Beste ist - ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, wovon wir eigentlich sprechen. Am Ende bleibe ich noch heute dem Widerspruch der Wissenden ausgesetzt und bin mir nur meiner Unwissenheit sicher.